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Fehlende Züge und Tarif-Chaos

Das Eisenbahnbundesamt hat für Züge des Typs "Talent 2" noch keine Zulassung erteilt. Die Bahn muss deshalb ältere Modelle einsetzen, der Fahrplan ist so nicht einzuhalten. Kritiker bemängeln, dass sich solche Vorfälle seit der Liberalisierung des Bahnverkehrs häufen.

Von Stefan Michel | 15.06.2011
    Auf dem Bahnsteig im westfälischen Siegen spielen sich täglich dramatische Szenen ab: Reisende springen aus dem verspäteten Zug aus Aachen, rennen den Bahnsteig hinab, um den Zug nach Gießen noch zu erreichen. Wer nicht gut genug zu Fuß ist, sieht vom Anschlusszug nur noch die Rücklichter. Achim Walder vom Verkehrsclub Deutschland nennt die Ursache für die häufigen Verspätungen der Züge aus dem Rheinland:

    "Leider sind die Fahrzeuge, die für diese neuen Betriebe von Aachen über Köln nach Siegen vorgesehen sind, immer noch nicht lieferbar. Die Firma Bombardier liefert diese Züge, und da gibt es Probleme mit der Software, und zwar beim Kuppeln der Züge."

    Deshalb hat das Eisenbahnbundesamt die mehrteiligen neuen Züge vom Typ Talent 2 bis heute nicht zugelassen. Ersatzweise fährt die Deutsche Bahn mit alten Zügen, die schwerfälliger und langsamer sind als der Talent 2. Nur: Damit ist der Fahrplan nicht einzuhalten.

    Der neue Zug fehlt nicht nur zwischen Aachen und Siegen. Er sollte auch bei der Nürnberger S-Bahn rollen und auf Strecken in Rheinland-Pfalz, Hessen und Sachsen. Dass ein neuer Zugtyp wegen technischer Mängel nicht fristgerecht zugelassen wird, das ist laut Verkehrsexperte Walder kein Einzelfall, sondern Folge der neuen Vielfalt auf der Schiene:

    "Also, es tritt überall immer wieder auf, wenn man jetzt Fahrzeuge so von der Stange kauft. Und eventuell auch Fahrzeuge kauft, die noch gar nicht gebaut worden sind."

    Früher, als noch allein die Deutsche Bahn das Schienennetz befuhr, wurden neue Zugtypen viele Jahre lang getestet, bevor sie in größerer Zahl auf die Schiene kamen. Heute werden Strecken ausgeschrieben, Verträge gelten nur für eine begrenzte Zeit, und als Folge müssen die Deutsche Bahn und ihre privaten Konkurrenten die Züge oft kurzfristig bestellen, nach den Vorgaben der Zweckverbände für Schienennahverkehr. Für gründliche Tests fehlt die Zeit, und Querschüsse aus Brüssel machten sie noch knapper, sagt Martin Henke vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen:

    "Der Hersteller hat häufig überhaupt keine große Zeit, irgendwelche Änderungen mit einzuarbeiten, weil ständig neue Vorschriften aus der Europäischen Union auf ihn zukommen."

    Weil schließlich die rund 70 deutschen Zweckverbände jeweils ihre eigenen Vorstellungen vom idealen Zug haben, muss das Eisenbahnbundesamt eine schier unüberschaubare Zahl von Zugvarianten untersuchen und genehmigen, mehrere hundert pro Jahr. Eine Normung wichtiger Zug-Komponenten ist dringend erforderlich, findet Martin Henke:

    "Weil es auf Dauer nicht sein kann, dass wir für jede kleine Änderung eines fast identischen Bauteils wieder eine neue Zulassung brauchen."

    Immerhin haben sich die Beteiligten mittlerweile zusammengesetzt. Ergebnis: Vor einigen Wochen veröffentlichte das Bundesverkehrsministerium ein Handbuch "Eisenbahnfahrzeuge". Mit ihm sollen Zugkomponenten künftig vereinheitlicht, sollen Serienzulassungen ermöglicht und die Zulassungsverfahren beschleunigt werden.

    Verpasste Anschlusszüge sind aber nicht der einzige Missstand, den Reisende zwischen Köln und Gießen ertragen müssen. Da sie durch mehrere Bundesländer und Zweckverbands-Gebiete fahren, gibt es Fahrkarten für die Gesamtstrecke nur bei der Deutschen Bahn - für teures Geld. Die Tickets der Zweckverbände sind preiswerter, aber um die zu lösen, müssten die Reisenden jedes Mal an den Grenzbahnhöfen aussteigen, am Automaten die Anschlusskarte ziehen und dann auf den nächsten Zug warten. Für Pro-Bahn-Chef Karl-Peter Naumann ist diese Form der Kleinstaaterei ein Konstruktionsfehler der Bahnreform:

    "Man hat das Thema Tarife nicht mit bedacht. Wenn ich den Verkehr in Wettbewerb geben will, dann muss ich auch einen entsprechenden Tarif haben, den alle anerkennen müssen."

    Doch einen solchen großflächigen Einheitstarif gebe es bislang nur für Schleswig-Holstein und Hamburg. Da haben Zweckverbände und Verkehrsunternehmen an ihrem runden Tisch noch viel zu tun.