Schäuble sagte beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, Gefahr entstehe da, wo man sich nichts mehr zu sagen habe. Demokratische Willensbildung basiere auf Wettbewerb, auf Austausch und Verständigung. Wo das nicht mehr stattfinde, werde die Legitimation von Politik infrage gestellt. Vielfalt sei ein Wert und fordere Neugier, betonte Schäuble. Die Herkunft aber dürfe nicht dazu missbraucht werden, jemand anderen herabzusetzen und auszugrenzen. Auch in Deutschland gebe es die, Zitat, "populistische Anmaßung, das 'Volk' in Stellung zu bringen - gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderheiten, gegen die vom Volk Gewählten.
Müller würdigt Deutsche Einheit als "Gemeinschaftsleistung"
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller würdigte als amtierender Präsident des Bundesrates die Deutsche Einheit als Gemeinschaftsleistung, für die man dankbar sein müsse. In der Zeit nach der Wende seien aber auch Wunden entstanden - durch die Deindustrialisierung ganzer Regionen und den Abbau unzähliger Arbeitsplätze. Dennoch sei die Wende der Beweis dafür, dass das Unvorstellbare gelingen könne. Müller betonte, Deutschland sei eine wehrhafte Demokratie. Er wisse, dass die deutliche Mehrheit der Menschen sich von Rechtspopulismus distanziere. Wörtlich sagte er: "In unserem Land muss niemand, um Kritik zu äußern, mit Rechtspopulisten und Rechtsextremen mitlaufen." Man lasse sich nicht auseinanderdividieren - und das sei keine Frage von Ost und West.
Bundeskanzlerin Merkel sagte kurz vor dem Festakt, sie persönlich erinnere sich immer wieder voller Emotion an den Tag der Deutschen Einheit. 28 Jahre nach der Wiedervereiniung wisse man, dass die Einheit ein Prozess sei, ein langer Weg. Am Vormittag hatten sich Bundespräsident Steinmeier, Merkel, Schäuble und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhlke, im Roten Rathaus in das Goldene Buch Berlins eingetragen. Anschließend begaben sie sich für einen ökumenischen Gottesdienst zum Berliner Dom. Dort standen unter dem Motto "Nur mit euch" Menschen im Vordergrund, die entweder selbst am Rande der Gesellschaft stehen oder über ihre Arbeit mit Armen, Geflüchteten oder Obdachlosen in besonderer Weise verbunden sind.
Bischof warnt vor Fliehkräften
Berlins evangelischer Bischof Markus Dröge erinnerte in seinem Grußwort daran, dass die Mauer inzwischen länger weg sei, als sie gestanden habe. Eine ganze Generation kenne die Mauer nur noch aus den Geschichtsbüchern. Ost- und Westdeutschland seien zusammengewachsen. Trotz der heutigen Selbstverständlichkeit der staatlichen Einheit entstünden jedoch wieder "Fliehkräfte, die unsere Gesellschaft auseinandertreiben" wollten, sagte er. Einheit bedeute daher nicht nur die Einheit von Ost und West, sondern auch die soziale Einheit des Landes.
Der katholische Erzbischof Heiner Koch mahnte in seiner Predigt Lernbereitschaft an. "Wer nicht die Grenzen seines Wissens, Fühlens und Handelns in aller Bescheidenheit anzuerkennen weiß, wer sich und seine Überzeugung für absolut hält und sich nicht als veränderungsnotwendig wahrnimmt, der ist mitten im Leben tot", sagte er und hinzu: "Eine Gesellschaft, die nicht lernfähig ist, erfriert und erstarrt. Zugleich beklagte Koch "simplifizierende Pauschalisierungen und wuterfüllte Empörungen des Populismus".
Kretschmer appelliert an den Anstand der Sachsen
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer appellierte während einer Feierstunde im Landtag in Dresden an den Anstand der Sachsen. Ausfälle und Attacken gegen ausländische Mitbürger dürften nicht zugelassen werden. "Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind die größten Gefahren für die Demokratie", sagte der CDU-Politiker. Zuvor hatte er die Deutsche Einheit als größte patriotische Leistung bezeichnet und eine Schieflage bei der Beurteilung der Lage in den ostdeutschen Bundesländern beklagt. "Nie ging es uns in den neuen Ländern so gut, nie war unsere Lebenserwartung so hoch und nie stand uns die Welt so offen wie heute", sagte Kretschmer der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post".
Sachsen-Anhalts Regierungschef Haseloff, ebenfalls CDU, kritisierte beim Thema Rechtsextremismus eine zu einseitig negative Berichterstattung in den Medien zu Lasten des Ostens. Dabei erinnerte er an Vorfälle im Westen, etwa in Kandel und in Dortmund, wo sich Nazis ohne bürgerliche Gegenreaktion in den Straßen bewegt hätten. Darüber rede nur niemand mehr, sagte Haseloff den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland.
Ist Deutschland weiter in Ost und West gespalten oder mittlerweile eher in "oben und unten"? Das war eine der Fragen der Deutschlandfunk-Diskussionsrunde zum Tag der Deutschen Einheit. Die Sendung lässt sich hier nachhören.
Bürgerfest und Demos in Berlin und München
In Berlin gibt es zum Tag der Deutschen Einheit auch ein Bürgerfest rund um das Brandenburger Tor, zu dem mehrere zehntausend Menschen erwartet werden. Abends findet dann noch ein Konzert statt. In der Hauptstadt hatten rechte Gruppen zudem zwei Demonstrationen angemeldet. Zu der Kundgebung der Gruppierung "Wir sind Deutschland" kamen nach Polizeiangaben rund 1.000 Menschen, darunter auch NPD-Anhänger und Hooligans. In München haben mehr als 20.000 Menschen unter anderem gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit demonstriert.