Ein erster warmer Frühlingstag in diesem Jahr. Dirk Heißerer ist aus München nach Feldafing gekommen. Gemeinsam geht es durch die kleine Gemeinde, vom Bahnhof runter gen See, dann nach rechts, bald beginnt das Gelände der Fernmeldeschule der Bundeswehr. Parken. Aussteigen. Was sofort auffällt: Wie still es hier ist. Wir stehen vor einem, für Starnberger-See-Verhältnisse eher kleinem, ockergelb gestrichenem Haus. Er sei, so Dirk Heißerer, Thomas Mann Verehrer - und langjähriger "literarischer Spaziergänger":
"Und als solcher verbinde ich Ort und Wort möglichst genau, und ich habe über die Tagebücher Thomas Manns von dem spektakulären "Vilino" in Feldafing gelesen wie viele andere auch - und hab ich eben auf die Suche gemacht. Und anstatt zu vorschnellen Ergebnissen zu kommen, dass es da hinten irgendwo mal gestanden haben soll, bin ich eben ins Staatsarchiv, ins Hauptstaatsarchiv.
Ich habe die Baupläne gesucht, ich habe über Kataster und so weiter alles ermittelt, und ich wusste, wie das Haus aussieht und wo es stehen müsste, bevor ich es dann eben an einem Augusttag 1994 dann tatsächlich gefunden habe. So wie es sich eben aus den Spuren ergeben hat."
Erinnerung an Thomas Mann war lange verschüttet
Die Frage, die sich sofort aufdrängt: Bei der Berühmtheit des Schriftstellers, der sich hier immer wieder aufhielt: Warum war das Haus so lange wie nicht-existent?
"Es war eine Tabu-Zone. Es war eine mehrfache Tabu-Zone, es war lange Zeit einfach auf dem Gelände der Fernmelde-Schule, das war so ein exterritoriales Gebiet außerhalb der Gemeinde, das gehört ja der Bundesrepublik. Davor war es kontaminiert durch eine Nazi-Vergangenheit. Hier war eine Reichs-Schule der NSDAP eingerichtet worden von der man nach dem Krieg dann überhaupt nichts mehr wissen wollte. Und dann hat man eben auch die Erinnerungen an Thomas Mann mit entsorgt.
Nach außen hin, in Wirklichkeit, wenn man dann mit den Einheimischen, Älteren, Eingeborenen sprach - das habe ich dann 1994 auch gemacht - dann wusste man sehr wohl, was man an dem Haus hatte, wer da gewohnt hatte. Also diese Vergangenheit war nur verschüttet, aber nicht wirklich entsorgt."
"Absteigequartier zur Erholung und zum Arbeiten"
1912 wurde das Haus, englische Bauweise mit einem lang gezogenen Dach, oben Gauben und halbrunde Fenster, als Spekulationsobjekt für den Kaufmann Wilhelm Enders erbaut. 1918 kauft es Georg Martin Richter, der aus Dresden stammende Kunsthändler, Kunsthistoriker und Verleger für 48.000 Mark - und schlug seinem Freund Thomas Mann, der die Gegend am Starnberger See liebte und sich nach einem "Absteigequartier zur Erholung und zum Arbeiten" sehnte, vor, sich mit 10.000 Mark am Erwerb zu beteiligen. Dieser kommt ab da mehr als zehn Mal hierher, meist alleine, manchmal auch mit der Familie:
"Also jetzt sind wir in der Diele dieses Hauses. Und wenn wir dann den Bauplan sehen - da ist er auch durch diesen Eingang gekommen - so ein kleiner Vorbau und dann die Diele, wo wir jetzt stehen. Links hinten geht es in den Wohnraum, den ich Ihnen gleich zeige. Abgetrennt war der Wohnraum durch eine Mauer mit einer kleinen Garderobe mit WC, das war also hier auf der linken Seite und auf der rechten Seite gibt es eine Bibliothek, die geplant war und eine Küche."
Neben dem Bauplan: Fotos aus dem Fotoalbum der Tochter von Georg Martin Richter: Den Eingang des Hauses von der Bahn kommend mit einem kleinen Tor mit Glocke, im Wohnraum das große Fenster mit Butzenscheiben, ein Kamin, einen Kiesweg um den Eingang herum, hohes Gras, alte Bäume, das Haus im Winter eingeschneit, im Schnee versunken. Heute in den Räumen: Die Kopie des originalen Schreibtischs, Vitrinen mit Briefen, Tagebuchdeckeln, Textauszügen, Zeitungen, Fotos und Bücher, Bücher, Bücher - von allem von sämtlichen Manns verfasste.
"Dann geht man hier die Treppe hoch - die alte historische Thomas-Mann-Treppe knarzt noch aus seinen Zeiten - und kommt oben zu einer Magd-Kammer, da hat die Haushälterin wohl geschlafen. Daneben hatte Thomas Mann, wie er sagt, zwei kajütenartige kleine Zimmerchen, die er für seine 10.000 Mark benutzen konnte. Und da war er, wie gesagt, ganz alleine und hat sich eben neu besonnen - ist viel spazieren gegangen."
Das "Toni-Kröger-Gefühl" in der Waldschmidt-Schlucht
Spazieren gegangen am westlichen Ufer des Starnberger Sees, nach Possenhofen, oder in die entgegengesetzte Richtung, nach Tutzing, weiß Gernot Abendt, den ich dort bei strömendem Regen einige Tage zuvor treffe, der im Arbeitskreis Ortsgeschichte mitgearbeitet hat, das Ortsmuseum leitet - und Thomas Mann schon seit unzähligen Jahren verehrt:
"Erst mal hab ich in der Schule schon meine Freude an Thomas Mann gehabt, also wir haben das gelesen im Deutsch-Unterricht - und dann kommt noch ein ganz persönliches Erlebnis dazu: Ich hatte mal eine Lungen-Sarkoidose,1969, und da war ich plötzlich auch auf einem solchen Zauberberg. Und ich kriegte das Buch in die Hand "Zauberberg", hab das gelesen und gesagt: 'Woher weiss der das, wie es einem da geht? Das gibt es doch gar nicht.' Ich war ja nur ein Vierteljahr krankgeschrieben und im Schwarzwald auf so einem Berg - aber diese Erlebniswelt ist so fantastisch getroffen, dass ich also fasziniert war."
Thomas Mann also wanderte nach und durch Tutzing, und dort umfasste ihn, im Wald und umgeben von hohem Gestein, ein sehr spezifisches Gefühl des Alleinseins. Gernot Abend hält den Schirm, wir stapfen durch das Nass:
"Das ist die sogenannte Waldschmidt-Schlucht, die Tutzing dazu diente, dass man hier auch Gestein abgebaut hat, um Häuser bauen zu können - Thomas Mann ist ja öfters nach Tutzing gekommen, mehrfach wird das erwähnt von ihm, dass er nach Tutzing gegangen ist oder gerudert ist oder so - und dann geht er hier durch die Waldschmidt-Schlucht, die ja wirklich etwas Düsteres hat, wenn man da hier so entlang schlendert. Und hier überkommt ihn wieder das Tonio-Kröger-Gefühl, er betont das ausdrücklich, dass er also hier emotionalisiert spazieren gegangen ist."
Zitat: "Es ist lange her, dass ich so lange allein war. Ich nannte es heute unterwegs meine Tonio-Kröger-Einsamkeit. Zu Anfang regte sie mich auf, aber die Umstände begünstigen sie so sehr, dass ich mich rasch in sie eingelebt habe. Über Einsamkeit und 'Weib und Kinder' wäre manches zu sagen, das heißt über ihre Würdigkeit, Ratsamkeit, Zuträglichkeit, ihre inneren Wirkungen. Die entscheidende Erwägung und Sicherheit bleibt mir, dass ich mich meiner Natur nach im Bürgerlichen bergen darf, ohne eigentlich zu verbürgerlichen. Hat man Tiefe, so ist der Unterschied zwischen Einsamkeit und Nicht-Einsamkeit nicht groß - nur äußerlich",
schreibt Thomas Mann am 22. Mai 1919 in sein Tagebuch - der Auszug hängt in der Diele im Vilino groß an der Wand. Zurück zu Dirk Heißerer, nach Feldafing:
"Dieses Tonio-Kröger-Einsamkeits-Motiv ist so unendlich wichtig, dass ich sogar meine, sagen zu können, warum die Tagebücher der Jahre 1918 September bis Dezember und dann 1920 und 1921 nicht vernichtet wurden, dass sie aufgehoben worden sind. Also all seine Tagebücher an einem Maitag 1945 in Amerika vernichtet hat, die Tagebücher vor 1933 - warum die nicht? Und dann wurde spekuliert: ja er arbeitete damals am Dr. Faustus mit den München-Szenen, Nachkriegszeit, da brauchte er das Tagebuch, da ist mit Sicherheit was dran - aber: Was ist der eigentliche Grund?, meine ich - und der eigentliche Grund ist das Wort der Tonio-Kröger-Einsamkeit, die er hier erlebt hat."
Neufassung des "Zauberberg"
Tonio Kröger ist die Künstler-Novelle vor der Heirat, es ist die Junggesellen-Novelle von Thomas Mann: "Das heißt, wenn er 1919 hier in dem Haus ganz alleine ist, ohne Familie, der Krieg ist verloren, alle seine Aspekte Deutschland wird geistiger und moralischer … ist alles vorbei. Der Feudalismus ist abgeschafft. Die Revolution lässt die Köpfe rollen. Indirekt oder manchmal auch direkt mit den Morden an Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, was ist jetzt los?
Und dann drückt er, das versteht man heute besser, wie ich immer sage - auf den Reset-Knopf. Und der Reset-Knopf bei Thomas Mann heißt: Tonio-Kröger-Einsamkeit. Er geht nochmal ganz zurück. Er fängt nochmal ganz neu an. Das heißt, dass da ein Auftrag drin steckt in diesen dem Feuer nicht überantworteten Sätzen doch etwas zu finden, was in der Asche der anderen Tagebücher nicht mehr zu finden ist."
In dieser Zeit, auch die "Betrachtungen eines Unpolitischen" hat er da abgeschlossen, begann Thomas Mann auch nochmal neu mit dem Zauberberg. Er stellte am Roman-Anfang einiges um, schrieb Kapitel 4 - und beendete, hier im Vilino, das Kapitel 5, mit der "Walpurgisnacht". Im November 1919 dann kam es zu Vilino-Irritationen: Anders, als vereinbart, hatte Georg Martin Richter die 10.000 Mark bei der Steuer angegeben - zum großen Ärger von Katja Mann. Der Kauf eines Segelbootes und der eines Grammophons glätteten die Wogen.
Grammophon als Schlüsselerbnis
Für Dirk Heißerer ist das Grammophon gar ein Schlüsselerlebnis in Feldafing für Thomas Mann: "Thomas Mann wollte eigentlich immer ein Pianola haben. Pianola war so ein automatisches Klavier, wo man eben so Platten reinlegte und dann spielte man quasi Chopin, als könne man es, aber das Klavier hat selbst gespielt. Und in Erweiterung davon gab's eben die Grammophone, es gab schon vorher welche, aber die wurden um 1920 immer besser.
Kurbelantrieb, eine Feder wird gespannt, und dann gibt es einen Ton-Arm mit einer Ton-Dose. Und wenn ich Ihnen das mal so ohne alles vorführe: Hier ein kleines Tischgerät der Firma Elektrola, und dann hat man hier den gewundenen Ton-Arm, und dann macht man hier an der Nadel ein bisschen ein Geräusch - mehr ist das nicht. Das geht dann durch den Arm hier so raus durch diese Leisten und man denkt: 'Was ist das denn?'"
Dann zieht man das Ganze ein bisschen auf. "Hat die Feder zu spannen - und dann nimmt man aus diesen Alben, die im Zauberberg dann eine Rolle spielen, das sind die Zauberbücher, weil jede Seite quasi hat eine Platte mit zwei Seiten, nimmt man die Platten heraus mit der Zirkelgrafik, sagt er dann auch, so überträgt er das Ganze aus dem Musikalischen ins Bildnerische. Dann legt man eine Platte auf und gibt ihr dann Schwung, beziehungsweise lässt den Apparat spielen. Und dann ertönt plötzlich ein Lied, das im Zauberberg eine große Rolle spielt."
"Gehört haben wir das Gebet des sterbenden Valentin - dem Bruder von Gretchen, aus der Faust-Oper von Gounod, die aber "Margarethe" heißt. Und dieses Lied erklingt im Abschnitt 'Fülle des Wohllauts' des Zauberberg, einmal. Und dann aber, im nächsten Abschnitt in der Geistersitzung Fragwürdigstes, ist es die entscheidende Hilfe für das Medium, einen abgeschiedenen Geist - den des Vetters Joachim Ziemßen - wieder sichtbar zu machen.
Das Medium bemüht sich wie bei einer Geburt: Es geht nicht voran, erst als dieses Stück aufgelegt wird, befreit es sich. Und dann kommt es dazu, dass gesagt wird: 'Ich sehe ihn' und ein anderer sagt: 'Ich sehe ihn schon längst' – 'Es war einer mehr im Zimmer' und dann ist es Joachim Ziemßen, in der aber von den Leuten nicht erkannten feldgrauen Uniform des ersten Weltkriegs mit einer merkwürdigen Kopfbedeckung - einem umgedrehten Kochtopf, vermutet man - es ist sein späterer Stahlhelm.
Und so hat diese Gruppe ein kollektives zweites Gesicht, das Thomas Mann zeitlich vor den Ausbruch des 2. Weltkriegs setzt. Weil die erzählte Zeit des Zauberbergs geht ja vom August 1907 - Ankunft Hans Castorp auf dem Zauberberg - bis zum August 1914 - Ausbruch des 1. Weltkriegs - und eben davor hat diese Gruppe diese Vision. Und das hat mit diesem Stück zu tun. Und wenn man das eben hier so präsentiert, wissen Sie, dann ist man plötzlich mitten im Roman, als gäbe es da gar keinen Filter - zwischen den Worten und dem Haus und dem Grammophon und so etwas."
Schwierige Suche nach dem passenden Grammophon
Das Rathaus der Gemeinde Feldafing befindet sich im denkmalgeschützten Bahnhof. Bernhard Sontheim ist hier - in erster Linie - Bürgermeister und damit per se mit dem Thomas-Mann-Haus und seinem Entdecker verbunden. Er ist aber auch: Leidenschaftlicher Grammophon-Sammler.
"Wir wissen, dass Thomas Mann in München ein Grammophon der Firma Elektrola hatte. Elektrola war eine Tochterfirma der englischen Firma His Masters Voice. Bei dem Grammophon handelt es sich um das sogenannte Model 192 in Eiche. Und der Dr. Heißerer und ich, wir also suchen nach geraumer Zeit nach einem 192er Grammophon, um das in das Museum reinstellen zu können, damit der Dr. Heißerer dann Musikabende veranstalten kann mit Schellackplatten, die einen Bezug zu Thomas Mann und seiner damaligen Zeit hatten."
Und warum ist die Suche so schwierig? "Das Grammophon ist relativ selten, es ist nicht billig, das wissen wir, das war eins von den Luxusgrammophonen, die in der damaligen Zeit gebaut worden sind - als es rauskam, war es das Luxus-Grammophon, es ist nur in sehr wenigen Stückzahlen produziert worden. Das Problem aus meiner Sicht ist auch, dass sich dieses Grammophon nur das Großbürgertum leisten konnte das in Großstädten wohnte und bekanntermaßen sind ja alle Großstädte im Krieg ausgebombt worden, dass da wahrscheinlich auch sehr viele zerstört worden sind. Und deswegen handelt es sich hier um ein sehr rares Grammophon."
1988, noch zu Bundeswehrzeiten, wird das Vilino renoviert, bekommt neue Fenster, wird als Büro genutzt. 1999 - fünf Jahre nach seiner "Entdeckung" eröffnen Dirk Heißerer und ein General der Bundeswehr dort ein gemeinsames Museum, ausgestellt war damals noch auch die Geschichte des Ortes, der Fernmeldeschule - und ein Mahnmal für den Widerstand des 20. Juli 1944.
Einziges Thomas-Mann-Museum in Bayern
Heute baut etwas unterhalb des Vilino das Tutzinger Krankenhaus einen großen Erweiterungsbau. Gerade klingen die Baustellen-Geräusche ab, es ist Freitagnachmittag. Dirk Heißerer sieht hier durchaus etwas Verbindendes entstehen:
"Wenn man weiß: Der Zauberberg ist ja nun ein Kranken-Roman - eine Frage auf Leben und Tod - dann kann diesem Haus nichts Besseres passieren, als dass eben die sogenannten Kranken und die sogenannten Gesunden fast wie aus dem Roman heraustretend sich in diesem Haus treffen. Oder dass man sich mit diesen Fragen auch in diesem Haus befassen wird - also da ist eine offene Tür."
Die auch die andere Seite offenhält: "Wir haben uns sehr gefreut, als wir das Grundstück auf dem Kasernen-Gelände gekauft habe, dass dort mit dem Vilino ein historischer Bau steht und zudem der Dr. Heißerer ein großes Engagement aufbringt und einen kleinen Museumsbetrieb schon aufgebaut hat", sagt Simon Machnik, der Klink-Geschäftsführer:
"Und selbstverständlich wollen wir, auch wenn wir nebenan unseren Klinikbetrieb ans Netz nehmen und dort die ersten Patienten kommen, haben wir natürlich auch großes Interesse daran, dass das Thomas-Mann-Haus, das Vilino, auch von Patienten genutzt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann - und wir hoffen, dass der Dr. Heißerer auch in Zukunft weiter den Museumsbetrieb aufrecht erhält."
Der hat dies sowieso vor - seitdem er im August 1994 zum ersten Mal hier vor dem kleinen ockergelben Haus in Feldafing stand. Seitdem ist er tätig, "diese Spuren zu sichern und zusammen zu führen und eben auch zu vermitteln. Das ist das Wichtige: Dass dieses Haus ein Zentrum wurde, dass es das erste und einzige Thomas-Mann-Museum in Bayern geworden ist - also wo Thomas Mann von 80 Lebensjahren die Hälfte verbracht hat, wo er geheiratet hat wo seine Kinder zur Welt gekommen sind, wo er die wichtigsten Werke zwischen Buddenbrooks und J. und seine Brüder geschrieben hat. Dieses Bayern hat kein Museum für Thomas Mann."
Außer eben diesem kleinen hier, dem wie Thomas Mann es nannte: "Feldafinger Mauseloch mit dem Grammophon".