Das Interview in der spanischen Originalfassung können Sie hier nachhören.
Christoph Heinemann: Helmut Kohl hat nie vergessen, dass Sie als einziger europäischer Regierungschef die Wiedervereinigung Deutschlands befürwortet haben. Wieso löste ein großes Deutschland bei Ihnen keine Befürchtungen aus?
Felipe González: Man kann den Lauf der Geschichte nicht aufhalten. Und die Geschichte lief darauf hinaus, dass Deutschland ein Land sein würde. Das war mir in dem Augenblick klar, als die Berliner Mauer fiel. Noch in derselben Nacht habe ich mit Bundeskanzler Kohl und mit dem ehemaligen Kanzler Willy Brandt gesprochen, um Ihnen meine Solidarität und Unterstützung zuzusichern. Ich war überzeugt, dass sich die Geschichte von diesem Augenblick an ändern würde.
"Kohl konnte eine politische Beziehung mit Freundschaft verbinden"
Heinemann: In welchem persönlichen Verhältnis standen Sie zu Helmut Kohl?
González: Helmut Kohl war eine besondere Persönlichkeit. Er konnte eine politische Beziehung, in der es immer um Macht geht, mit persönlichem Vertrauen und Freundschaft verbinden. Ich habe aus der persönlichen Freundschaft mit Helmut Kohl viele Jahre lang Nutzen gezogen. Eine Freundschaft, die durch ein persönliches Vertrauensverhältnis geprägt war und durch Verlässlichkeit seines Wortes und der Verabredungen. Außerdem habe ich seine menschliche Seite sehr geschätzt. Wir haben uns oft gesehen, nicht nur, wenn es um Europa ging.
Kohl war eine der großen europäischen Führungspersönlichkeiten und verfügte als CDU-Politiker über eine Vision von Europa als sozialer Marktwirtschaft; das war ein Element der Identität Europas. Mit Blick auf Europa stimmten wir häufig überein. Am meisten vermisse ich aber die persönliche menschliche Beziehung, die geprägt war durch großes Vertrauen.
Heinemann: … obwohl Sie Vorsitzender der spanischen Sozialisten waren und er Chef der deutschen Christdemokraten, also einer deutlich konservativeren Partei …
González: Kohl glaubte an die soziale Marktwirtschaft. Das ist ein spezifisch europäisches Gut, mit dem früher oder später eine Umkehr von der Wirtschaft der Globalisierung gelingen wird.
Heinemann: Erinnern Sie sich an einen entscheidenden Augenblick in Ihrem Verhältnis zu Helmut Kohl?
González: Es gab viele. Und zwar seit unserem ersten Treffen noch vor dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft. Helmut Kohl und Deutschland haben uns damals entschieden unterstützt. Ich erinnere mich, damals wurde sehr lebhaft über die Stationierung von Mittelstreckenwaffen diskutiert. Deutschland hatte sich angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion dazu verpflichtet. Ich erinnere mich, dass viele mich damals kritisierten und überrascht waren, weil ich bei diesem Treffen diese Entscheidung der Stationierung durch die NATO ausdrücklich unterstützt habe, als Antwort auf die SS20-Raketen. In Deutschland gab es heftigen Widerstand dagegen. Heute 30, 35 Jahre später, wiederholt sich diese Raketen-Debatte wegen Putins Verhalten leider.
"Der politische Wert der Integration Spaniens in Europa lag deutlich über dem wirtschaftlichen"
Heinemann: Sie haben die Diktatur erlebt. Was bedeutete die europäische Idee und die europäische Gemeinschaft für Sie?
González: Anders als viele meinen, lag der politische Wert der Integration Spaniens in Europa deutlich über dem wirtschaftlichen, und dies merkte man vom ersten Augenblick unserer Mitgliedschaft an. Später wurde vieles durcheinander gebracht. Aber für uns bildete die Integration in ein Europa der Freiheit, der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft ein Mittel, um die Isolierung und den Schrecken der Diktatur zu überwinden.
Heinemann: Fehlt heute in der europäischen Politik die Generation derjenigen, die Diktatur und Krieg erlebt haben?
González: Ja, Kohl und ich, wir haben oft über die Folgen des zweiten Weltkrieges und über die der langen Diktatur gesprochen. Das hat uns zusammen gebracht. Übrigens auch mit Mitterrand. Es bestand eine lebenswichtige gemeinsame Erfahrung von besonderer Bedeutung. Vor allem für Kohl, denn er verfügte über ein Gefühl für die Geschichte, das ich sehr geschätzt habe. Dieses Gespür für die Geschichte, die er erlebt hatte, führte dazu, dass er in der Debatte über Mark oder Euro ein europäisches Deutschland wollte. Niemals sollte sich die Geschichte eines deutschen Europas wiederholen. Diese Geschichte wollte er überwinden.
"Wieso haben wir die Bankenkrise von 2008 nicht in den Griff bekommen?"
Heinemann: Wieso gibt es heute in fast allen Staaten der Europäischen Union rechte antieuropäische Parteien?
González: Vor dieser stelle ich noch eine andere Frage: inwiefern scheitern die europafreundlichen Parteien, die wir auch Parteien des europäischen Zentralismus nennen können, an der europäischen Aufgabe und öffnen damit Raum für die Zurückweisung Europas, für Nationalismus, Populismus und Fremdenfeindlichkeit? Wir müssen unsere eigenen Verhaltensweisen kritisch betrachten.
Wieso haben wir die Bankenkrise von 2008 nicht in den Griff bekommen? Wieso gibt es keine einheitliche Grenzpolitik in der Flüchtlingsfrage. Und wieso verstehen wir nicht, was Trumps Amtsantritt bedeutet, der die Europäische Union überhaupt nicht schätzt? Wir, die proeuropäischen Parteien, die wir den Vertrag von Maastricht auf den Weg gebracht haben, oder vorher die Einheitliche Europäische Akte, wir müssen unsere Verantwortung überprüfen. Der Raum für Reformen, für die Entwicklung der Europäischen Union darf nicht von Nationalisten und Fremdenfeinden besetzt werden - mir ist es übrigens gleichgültig unter welcher Fahne, ob es sich um Rechts- oder Linksextreme handelt. Denen geht es um die Zurückweisung Europas.
Um die Ablehnung der durch die technologische Revolution und die Globalisierung längst unvermeidbare gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung. Es ist paradox: je dringender wir ein starkes und partnerschaftliches Europa benötigen, umso mehr schwächen wir uns, und können so die notwendigen Reformen nicht anpacken.
"Europa muss besser werden"
Heinemann: Ist Felipe González und Helmut Kohls europäisches Erbe in Gefahr?
González: Das glaube ich nicht. Wir durchlaufen gerade eine Durststrecke. Bei meinem letzten Gespräch mit Helmut vor einigen Jahren war er allerdings sehr besorgt. Die Debatte über mehr oder weniger Europa bringt nichts. Für ein besseres Europa müssen wir das Prinzip der Subsidiarität anwenden. Wir werden in einigen Fällen mehr Europa benötigen und in anderen weniger. Das Problem ist aber ein qualitatives. Europa muss besser werden. Unserer gemeinsamen Bestimmung eines vereinigten Europa können wir nicht entkommen. Andernfalls würde jedes unserer Länder innerhalb Europas und international bedeutungslos.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.