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Fenstersturz vor 600 Jahren
Warum die Prager Ratsherren sterben mussten

Der erste Prager Fenstersturz im Jahr 1419 gilt als Ausgangspunkt für die Hussitenkriege, die Mitteleuropa anderthalb Jahrzehnte lang in Atem hielten. Elf Menschen wurden dabei grausam ermordet. Dabei hatte alles ganz friedlich begonnen - mit einem religiösen Umzug.

Von Winfried Dolderer |
    Blick vom Altstädter Rathaus auf Hradschin, Prager Burg und Veitsdom.
    Blick vom Altstädter Rathaus auf die Prager Burg und den Veitsdom (imago / imagebroker)
    Es war eine schon etwas merkwürdige Prozession, die sich am 30. Juli 1419 durch die Prager Neustadt bewegte. Die Teilnehmer hatten in der Kirche Maria Schnee eine aufrüttelnde Predigt gehört, dann in der Stephanskirche die heilige Kommunion in beiderlei Gestalt mit Brot und Wein empfangen. Anders als man von frommen Betern erwarten würde, waren sie indes nicht unbewaffnet. Viele führten Spieße, Schwerter und Mistgabeln mit. Von der Stephanskirche zogen sie vor das Neustädtische Rathaus. Was dort geschah, schildert ein Chronist:
    "Jemand schleuderte einen Stein aus dem Rathaus herunter auf den Priester. Die Menge, die ihm folgte, geriet in Wut, und sie schrien: Da werfen sie Steine gegen den Leib des Herrn und gegen unseren Priester!
    Und sie stürmten das Rathaus, brachen den Eingang auf, warfen die Ratsherren aus dem Fenster und erschlugen sie."
    Am Ende lagen elf Tote zerhackt und durchbohrt auf dem Pflaster. Der sogenannte Erste Prager Fenstersturz war der Auftakt zur hussitischen Revolution. In der Bluttat entlud sich zugleich ein seit Jahren schwelender konfessioneller Konflikt im Königreich Böhmen zwischen der Bevölkerungsmehrheit, die der Lehre des 1415 als Ketzer verbrannten Jan Hus anhing, und den Gläubigen der hergebrachten römischen Kirche.
    Kein spontaner Vergeltungsakt
    Anders als die hussitische Chronik behauptet, war der Fenstersturz kein spontaner Vergeltungsakt, sondern von langer Hand geplant. Nach den Worten der tschechischen Historikerin Pavlina Rychterová sah sich der Anführer, der Prediger Jan Želivsky, zum Handeln gedrängt.
    "Er hat befürchtet, dass der Einfluss von seiner radikalen Partei in Prag schwinden wird."
    Böhmens König Wenzel IV., der die Hussiten zunächst hatte gewähren lassen, war Anfang 1419 umgeschwenkt. Drei Wochen vor dem Fenstersturz hatte er den Neustädter Rat in Prag mit Anhängern des alten Glaubens neu besetzt, später den hussitischen Agitator Nikolaus von Husinec seiner Hauptstadt verwiesen.
    "Und da hat wirklich gefürchtet der Želivsky, dass der König jetzt auch gegen ihn selber schärfere Maßnahmen ergreifen wird, und er hat sich zu einem Gegenangriff entschieden."
    Der böhmische Reformator und Philosoph Jan Hus 
    Der böhmische Reformator und Philosoph Jan Hus wurde 1415 in Konstanz wegen Ketzerei verbrannt. (picture alliance/dpa/Foto: Prisma Archivo)
    Das Konstanzer Konzil hatte den Magister Hus verbrennen lassen, weil er die Autorität des hohen Klerus in Frage gestellt und eine Kirche der Armen und kleinen Leute gepredigt hatte. Er hatte Ideen des englischen Reformators John Wyclif aufgegriffen, allerdings mit größerer Durchschlagskraft als diesem je beschieden war.
    "John Wyclif war ein Universitätsgelehrter, der seine Konzepte sehr radikal formuliert hat, aber den eigentlich das gemeine Volk nicht interessiert hat. Das war ein großer Unterschied zu Hus. Das Konstanzer Konzil hat auch dem Hus vor allem zum Vorwurf gemacht, dass er mit den radikalen Ideen von Wyclif nicht auf dem Boden der universitären Debatte bleibt, sondern diese Ideen unter das Volk trägt."
    Ihre besondere zusätzliche Brisanz bezog diese Predigt aus der Gemengelage im zweisprachigen böhmischen Königreich, wo die Tschechen seit dem 13. Jahrhundert mit einer wohlhabenden und einflussreichen Bevölkerung deutscher Kaufleute und Facharbeiter zusammenlebten.
    "Die Kommunikation der Reformideen, die geschah auf Tschechisch. Man hat versucht eigentlich, die deutsche Bevölkerung nicht anzusprechen damit."
    Wider die Feinde göttlicher Wahrheit
    So verquickten sich in der hussitischen Bewegung religiöse und nationale Triebkräfte. Nach den Worten ihres Militärchefs Jan Žižka ging es "wider die Feinde göttlicher Wahrheit und Zerstörer der böhmischen Nation".
    "Der Hieronymus von Prag, der sagt (…): Der richtige Glaube, das bedeutet, Anhängerschaft von Wyclifs Ideen, und die richtige Nation, die richtige Sprache, das heißt Tschechisch, und die richtige Abstammung aus der tschechischen Mutter, tschechischem Vater, das zeichnet eigentlich einen guten Gläubigen aus."
    Papst und Kirche riefen zum Kreuzzug auf
    Die letzten Dämme brachen, als gut zwei Wochen nach dem Fenstersturz König Wenzel einem Schlaganfall erlag. Der Aufruhr ergriff jetzt das ganze Land. Papst und Kaiser riefen zum Kreuzzug auf. Doch die Versuche, von außen die altkirchliche Ordnung in Böhmen wiederherzustellen, scheiterten immer wieder blutig. Es war Žižka, der aus der Masse hussitischer Gläubiger eine Streitmacht formte, die Mitteleuropa anderthalb Jahrzehnte lang in Angst hielt. Seine Parole:
    "Wer ein Schwert führen, wer einen Stein werfen, wer einen Prügel schwingen kann, muss zum Kampfe gerüstet sein."