Jan Drees: Am Mikrofon Jan Drees, heute im Gespräch mit einem Schriftsteller, der bislang drei Millionen Exemplare seiner Bücher allein in Deutschland verkauft hat, dessen Sachen übersetzt worden sind in 40 Sprachen, dessen Geschichten die Vorlage bilden für zahlreiche Kino- und Fernsehfilme, für Serienproduktionen, die regelmäßig Traumquoten einfahren. Sein Theaterstück "Terror" ist das meistgespielte der deutschen Gegenwart. Aus Berlin zugeschaltet ist Ferdinand von Schirach, der dem "Büchermarkt" das einzige Interview zu seinem neuen Buch geben wird, über das wir später sprechen werden. Ich grüße Sie, Herr von Schirach!
Ferdinand von Schirach: Guten Tag, Herr Drees, vielen Dank für die Einladung zu dem Gespräch!
Drees: Mindestens drei Jahre sind vergangen, seit Sie und ich das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Einiges ist seitdem geschehen – wie war Ihre Zeit, woran haben Sie gearbeitet?
Schirach: Also die letzten drei Jahre waren nicht ganz ohne Anstrengungen, für mich auch, auch wenn ich immer noch sehr gerne schreibe, aber am Ende stimmt einfach, was Karl Valentin einmal gesagt hat: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.
Drees: Als Anwalt sind Sie nicht mehr tätig?
Schirach: Nein. Das wäre, glaube ich, ein zu großes Risiko. Stellen Sie sich mal vor, dass ein Richter meine Bücher nicht mag, und der arme Mandant bekommt das dann alles ab. Außerdem ist es schon so, dass das Schreiben mich ein bisschen zu sehr in Anspruch nimmt, und das wissen Sie selbst, wenn man zu viel macht, macht man am Schluss alles nicht mehr gut.
"Es bleibt uns also nichts anderes übrig, wir müssen zusammenhalten"
Drees: "Die Herzlichkeit der Vernunft" heißt jene Schrift, die in Ihrem neuen Verlag Luchterhand gerade erschienen ist. Das ist eine Zusammenstellung von Gesprächen, die kein geringerer als Alexander Kluge mit Ihnen geführt hat. Die Grundthese, wenn ich diese aus Ihrem gemeinsam verfassten Vorwort richtig erschließe, ist jene, dass die blaue Färbung unseres Planeten nicht nur auf physikalischen und geologischen Phänomene beruht, sondern auch auf die Geistestätigkeit jener großen Denker, über die Sie dann im Folgenden sprechen werden. Was verbindet denn unter anderem Sokrates, Voltaire und Kleist Ihrer Ansicht nach?
Schirach: Es ist letztlich eine Freundlichkeit dem Leben gegenüber. Es ist das zutiefst Menschliche. Ich will mal versuchen, es ganz unphilosophisch zu erklären: Es gab Ende der 70er-Jahre eine Raumsonde, die hieß Voyager, startete von Cape Canaveral und war die erste Sonde, die unser Sonnensystem verließ, und 1990, als sie praktisch schon überhaupt keine Kraft mehr hatte, schickte sie ein letztes Foto über eine Strecke von sechs oder sieben Milliarden Kilometern zur Erde. Es war die größte Entfernung, aus der jemals ein Foto gemacht wurde, und auf einem dieser Fotos ist unser Sonnensystem zu erkennen. Ganz viele Sterne, und links unten ein winziger hellblauer Punkt, und nicht mal die Größe eines Stecknadelkopfes, und das ist die Erde, dort ist alles, was wir sind und was wir jemals sein werden. Dieses Foto, das lange Zeit über meinem Schreibtisch hing, ist vorne jetzt in dem kleinen Buch abgedruckt, und wenn Sie das anschauen, wird Ihnen klar, wie völlig verrückt wir sind, dass wir Kriege führen, uns töten, uns gegenseitig kaputt machen. In unserer Milchstraße, müssen Sie sich vorstellen, soll es etwa 100 Milliarden Sonnensysteme geben und im Weltall 100 Milliarden solcher Galaxien, aber das alles zusammen ist nur etwa zehn Prozent des Universums, und der Rest ist 270 Grad kalt und leer. Wir, lieber Herr Drees, sind vergänglich, wir haben keine Gewalt über unser Leben, und Mark Aurel schrieb mal, dass Alexander der Große und sein Maultiertreiber am Ende denselben Weg genommen haben. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, wir müssen zusammenhalten.
Drees: Und wir müssen uns dem stellen, was auch Blaise Pascal schon gesagt hat: Wir sind ein Nichts gegenüber dem All und ein All gegenüber dem Nichts, dem Allerkleinsten, und zwischen diesen beiden Extremen werden wir schwanken ohne Unterlass. Das mag vielleicht auch erklären, weshalb wir dann dennoch, weil wir auch ein All gegenüber dem Nichts sind, bereit sind, Kriege zu führen und dann vergessen, dass wir ein Nichts sind gegenüber dem All.
Schirach: Ja, wir vergessen es dauernd, aber es ist nichts Gutes.
"Alexander Kluge ist wahnsinnig neugierig"
Drees: Wie ist es zu diesem Band gekommen? Wie entstand Ihr Projekt mit Alexander Kluge, der selbst Jurist ist wie Sie?
Schirach: Das stimmt. Also Alexander Kluge ist ja einer der wirklich bedeutenden Intellektuellen Europas. Er hat, wie Sie sagen, Jura studiert, er hat Geschichte und Kirchenmusik studiert, er war lange Zeit der engste Vertraute von Adorno, gewann dann in den 60er-Jahren das erste Mal nach dem Krieg den Goldenen Löwen in Venedig für einen Film, gründete die Filmabteilung der, ich glaube, sie heißt Ulmer Hochschule für Gestaltung, und macht bis heute Filme und hat, glaube ich, über Tausend gemacht, aber er ist – und das hat mich immer an ihm wahnsinnig beeindruckt – nicht wie so viele andere versteinert, sondern er ist genau das Gegenteil. Er ist wahnsinnig neugierig, sieht immer höchstinteressiert auf diese Welt, und, wie gesagt, ich bewundere ihn sehr. Wir haben dann in den vergangenen Jahren einige Filminterviews gemacht, teilweise in einem Theater und eine Reihe von Gesprächen, die wir sonst so geführt haben, auf Band aufgezeichnet. Ich habe ihn immer wieder aus dem Auto angerufen auf langen Fahrten, und dann haben wir uns eine Stunde über die "Buddenbrooks" unterhalten oder über Napoleons Begegnung mit Goethe oder einfach nur über die Leitungsmasten, die neben der Straße stehen, und irgendwann haben wir das zusammengefasst, und daraus ist dann dieses Buch entstanden.
"Die Vernunft ist nicht kalt und überheblich"
Drees: "Die Herzlichkeit der Vernunft" heißt Ihre Schrift. Nun ist die Adelung der Vernunft ein Konzept der Aufklärung, ein Konzept, das auch zu etlichen Irrwegen geführt hat – es hat die Sehnsucht nach Transzendenz und Mythos nicht suspendieren können. Worin besteht also die Herzlichkeit der Vernunft, Herr von Schirach?
Schirach: Also ich glaube, dass die Vernunft das gar nicht machen muss, die Transzendenz und den Mythos zu suspendieren. Die Vernunft ist nicht kalt und überheblich. Sie verneint das Geheimnisvolle nicht. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Vernunft, jedenfalls wie Kluge und ich sie verstehen, ist vor allen Dingen menschenfreundlich. Sie erinnern sich vielleicht an diesen wunderbaren Satz im "Zauberberg", der steht, glaube ich, im Schneekapitel, und da sagt Thomas Mann: Der Mensch soll um der Güte und Liebe Willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Ich glaube, das drückt am ehesten die Herzlichkeit der Vernunft aus, wie sie zum Beispiel auch von Montaigne verstanden worden ist.
Drees: Zu Beginn sprechen Sie und Alexander Kluge über das Gerichtsverfahren gegen Sokrates – da sind Sie ganz in ihrem Metier und beschreiben auch, wie Sokrates seine Ankläger und auch den Richter beschimpft haben soll. Sie sagen, das sei natürlich nicht klug, Richter zu bedrohen funktioniere fast nie. Da möchte man gleich wissen: Wenn es fast nie funktioniert – in welchen Fällen kann dieses Manöver gelingen?
Schirach: Manchmal muss man das als Verteidiger tun. Manchmal muss man zeigen, wie wütend man über eine Ungerechtigkeit eines Richters ist. Vielleicht erinnern Sie sich an den Prozess gegen Kachelmann. Wenn dort der neue Verteidiger, der ja später in den Prozess erst kam, nicht irgendwann laut und unfreundlich geworden wäre, wäre der Angeklagte ziemlich sicher verurteilt worden, aber das funktioniert natürlich nur, wenn man nicht im Unrecht ist, und entgegen der fast allgemeinen Meinung wurde Sokrates zu Recht verurteilt. Er verstieß ja gegen die Gesetze Athens. Er hätte vielleicht das Gericht trotzdem als freier Mann verlassen können, aber genau das wollte er nicht. Seine Verurteilung war – so könnte man es zusammenfassen – nicht wirklich ein Justizmord, sondern sehr viel eher ein Justizselbstmord.
"Die Erzählung ist also letztlich wichtig für das Fortbestehen der Gesellschaft"
Drees: Sie beschreiben in dem Band auch, wie Sokrates sich vernünftig hätte verteidigen können, er wäre möglicherweise tatsächlich als freier Mann aus diesem Gericht entlassen worden. Es gibt viele Aspekte in diesem wirklich hochinteressanten und kurzweiligen Band. Wir können leider nicht über alle reden, aber da wir eine Literatursendung sind, möchten wir natürlich über das Literarische sprechen. Literatur findet die ganze Zeit lang statt: Über den Sokrates-Diskurs und den Athener Prozessen kommen Sie später zur Bedeutung des Thing und schreiben über den Zusammenhang von Gerichtsverfahren und Erzählungen. Mögen Sie das noch einmal für unsere Hörer auf erweiternde Weise erklären, wie Gerichtsverfahren und Erzählung zusammenpassen?
Schirach: Das war so, das Thing, das germanische Thing war ein heiliger Ort. Also wenn irgendetwas Schreckliches passierte – ein Dorf wurde überfallen und niedergebrannt, die Frauen vergewaltigt und so weiter –, dann trafen sich die Menschen dort, und meistens lag das Thing auf einem Hügel. Das Interessante ist, dass es dort zwei Arten von Richtern gab. Das eine waren die Erzähler, und das andere waren die Urteiler, und die Urteiler waren gar nicht so wichtig. Es ging im Wesentlichen um die Erzähler. Sie sprachen ganz lange über dieses furchtbare Ereignis und zwar sehr detailliert, bis alles erfasst war. Welcher Frau wurde was angetan, welches Haus wurde niedergebrannt, wie sahen die Angreifer aus, wie viele waren es und so weiter. Dieses genaue, exakte Erzählen beruhigte die Gemeinschaft, und das tut es noch heute. Das Böse ist ja das Gegenteil, das ist immer das Unaussprechliche, und das Unausgesprochene, wenn Sie so wollen, die Schuhspitzen, die wir unter dem Vorhang sehen, die Schritte, die wir nachts auf der Straße hinter uns hören. Ich glaube, dass dort auch das Interesse der Strafprozesse für die Allgemeinheit liegt, nämlich genau da werden die Taten nacherzählt. Noch immer sind die Taten selbst furchtbar, aber sie machen uns auf diese Weise weniger Angst. Die Erzählung ist also letztlich wichtig für das Fortbestehen der Gesellschaft. Wenn wir uns etwas selbst erzählen, wenn die Gesellschaft in einem Strafprozess sich etwas erzählt, versichert sie sich ihrer selbst. Das ist das Wesentliche.
Drees: Das haben wir in Südafrika nach der Apartheid gesehen.
Schirach: Genau.
Drees: Das kennen wir möglicherweise auch aus Märchen, dem Rumpelstilzchen, dessen Macht in dem Moment genommen wird, wenn man den Namen ausspricht. Nun war es Dürrenmatt, der gesagt hat, wenn er irgendwann an einem Schaufenster vorbeigeht und ein Buch darin liegen sieht, auf dem steht "Trost bei Dürrenmatt", dann hört er auf, dann hat er fertig – Literatur sollte nicht trösten. Sie scheinen das anders zu sehen.
Schirach: Ja, das ist auch anders. Also Literatur soll auch erfreuen und auch trösten und auch uns Mut machen in dunklen Stunden. Seltsamerweise macht das auch die Literatur von Dürrenmatt, auch wenn er das nicht will.
"Schreiben ist große Arbeit und anstrengend"
Drees: Kann es denn auch den Schriftsteller trösten? Man hört so oft von Schriftstellern den Satz: Natürlich finden unsere Leser Trost, können die Leser Trost finden in dem, was wir schreiben, aber für uns ist es die Hölle.
Schirach: Ja, das ist aber vielleicht auch ein bisschen wohlfeil. Das Schreiben ist enorm anstrengend. Das weiß jeder, der schreibt, und es hat nichts Genialisches, dass man so morgens aufsteht und dann sich hinsetzt und die wunderbarsten Sachen schreibt, sondern Schreiben ist große Arbeit und anstrengend, aber es ist, wenn man ehrlich ist, ein absolut wunderbarer Beruf, weil man in seinem Kopf lebt und man mit seinen Figuren lebt, und diese Figuren, die man erschafft, verselbstständigen sich dann ein bisschen, und man sieht ihnen zu und schreibt das auf. Das ist alles herrlich da dran. Also ich schreibe sehr gerne, und ich finde es falsch, zu sagen, dass es furchtbar ist dieses Schreiben. Ganz im Gegenteil.
Drees: Weshalb schreibt man – Alexander Kluge sagt in Ihrem Sokrates-Dialog: "Es gibt eine Notwendigkeit der Fantasietätigkeit. Wenn die Welt in die Funktionale rutscht, geht mein Sinn in die Imaginäre. Das ist eine natürliche Zweiteilung, die im Menschengeschlecht angelegt ist", sagt er Warum stimmen Sie dem zu?
Schirach: Ja, das hat noch einen weiteren Grund: Sehen Sie, in unserer Gesellschaft sollen die Extreme verschwinden, und das ist, glaube ich, ganz vernünftig und fair, und heute würde doch nur noch ein Dummkopf so einen Satz sagen wie Gordon Gekko in dem Film "Wallstreet", er sagte dort: Gier ist richtig und funktioniert, und wir sollen gierig sein und so weiter. Das ist vollkommen vorbei. Selbst die Eliten wollen heute auf gar keinen Fall mehr so bezeichnet werden. Alle die Dinge, die vor 30 Jahren noch entscheidend waren – Einkommen, Wohnung, Auto und so weiter –, das sagen heute in den Großstädten fast nichts mehr über den sozialen Status aus. Die anderen Dinge sind den jungen Menschen wichtiger geworden: Kein Fleisch zu essen, die Umwelt zu schützen, die Aufmerksamkeit bei Facebook und Instagram, in den sozialen Netzwerken. Trotz des Terrors, trotz der Anschläge, die wir immer wieder sehen, ist das heute die friedlichste Zeit, die es in Europa jemals gab, aber dann passiert – und das meint Kluge in dem Buch auch – etwas ganz anderes, nämlich das Leben scheint plötzlich langweilig zu sein. Sie wissen, das war der Hauptvorwurf an Angela Merkel, sie sei langweilig. Niemand hält es auf Dauer in dieser Mitte aus, und plötzlich wirkt das Extrem anziehender. Die Intensität beginnt, zu fehlen, und die Leute sagen, sie wollen sich selbst wieder fühlen. Das ist ein vollkommen alberner Ausdruck. Dann beginnen, sie Marathon zu laufen, springen an Gummiseilen befestigt von Brücken und klettern im Hochgebirge rum. In Berlin beispielsweise gibt es mittlerweile Klubs, in denen alle nackt tanzen, und Menschen verabreden sich im Internet zum Sex in weichen Tierkostümen. Es wird einfach der Rausch gefeiert. Das ist sozusagen die Abkehr von der Milde und von der Mitte des Lebens, das eigentlich gewollt ist. Ein anderes Beispiel: Früher tätowierten sich ja nur Matrosen und Strafgefangene, und heute ist das in jeder Bevölkerungsschicht beliebt, und Männer und Frauen stechen sich Nadeln selbst durch ihre Geschlechtsorgane, weil der Körper das einzige ist, an dem sie sich noch ausleben können und ins Extreme gehen können.
Drees: Es gab immer wieder Zeiten, in denen die Mitte gefeiert wurde, die Mitte angestrebt wurde, in anderen Zeiten dann wieder die Elite. Das hat Herfried Münkler in "Mitte und Maß" 2010 geschrieben. Wir können also noch nicht mal darauf hoffen, dass es so bleibt, dass die Mitte, mittelalterliche Mäßigung, die Masze, die im Moment noch wirkt, auch Bestand haben wird.
Schirach: Das glaube ich auch. Wissen Sie, es ist ja letztlich so, dass auch die Mitte ein Extrem sein kann, und wenn man zu sehr in der Mitte ist und eine Gesellschaft keine Möglichkeiten mehr hat, extremere Positionen einzunehmen, dann bricht es irgendwann durch, und das wird dann gefährlich. Tatsächlich ist es so, dass die Mitte dem Menschen gemäß ist und dass er dort am besten und am friedlichsten lebt, aber, wie gesagt, er hält es nicht lange aus.
"Ein sehr interessantes Beispiel, wie viel Literatur bewirken kann"
Drees: Man bemerkt untrüglich in jedem Ihrer Gespräche, dass Sie in den Auseinandersetzungen mit den behandelten Geistesgrößen auch den Anlass suchen, weshalb jemand schriftstellerisch tätig ist, wie bei Voltaire, der ein Unrecht dadurch erst an eine große Öffentlichkeit bringen kann, indem er eine Geschichte erzählt. Was beeindruckt Sie an diesem Beispiel?
Schirach: Voltaire kämpfte für einen Mann, für Jean Calas, den er überhaupt nicht kannte, und zwar nur, weil dieser Mann ungerecht behandelt worden ist. Dieser Kampf, den er führt, sein Handeln und vor allen Dingen sein Schreiben, das war ein Trotzdem, also trotz der herrschenden Moral, trotz des Justizsystems und vor allen Dingen trotz der öffentlichen Meinung. Das Interessante war da dran, dass er mit all seinen Bemühungen keinen Erfolg hatte. Also er schrieb unendlich viele Briefe und sprach mit jedem und so weiter. Erst dadurch, dass er eine kleine Schrift verfasste, änderte sich alles. Die Leute lasen das und waren selbst empört über das, was Jean Calas passiert. Das ist ein sehr interessantes Beispiel, wie viel Literatur bewirken kann und dass es auch richtig ist, sich dafür einzusetzen.
Drees: Stimmt es, dass Ihr Debüt-Geschichtenband "Verbrechen" ursprünglich als Sachbuch geplant war?
Schirach: Ach, wissen Sie, Herr Drees, das ist ja eine Unterscheidung, die überhaupt nicht wichtig ist. Sie wissen wahrscheinlich noch, dass man diese wunderbare Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, als sie den Nobelpreis bekam, vorgeworfen hat, das wäre keine Literatur, sie schreibe Sachbücher. So etwas halte ich für völligen Unsinn. Es gibt auch beim Schreiben und bei der Literatur tatsächlich, wenn man mal alles wegstreicht, nur zwei Kriterien, nämlich das eine ist, ob das Geschrieben ernsthaft gemacht worden ist, und das Zweite ist, ob es die Menschen berührt. Bei Alexijewitsch sehen Sie das ganz deutlich, das ist große Literatur. Diese Unterscheidung zwischen Sachbuch und Belletristik, das kam relativ spät, und das ist auch überhaupt nicht wichtig.
Drees: Weshalb erläutern Sie in diesem Band zum ersten Mal den wahren Hintergrund Ihrer vermutlich bekanntesten Geschichte "Fähner", die Ihrem ersten Geschichtenband "Verbrechen" eröffnet? Warum verraten Sie das?
Schirach: Das ist ein Missverständnis, Herr Drees. Ich verrate das gar nicht. Das ist ein völlig anderer Fall, über den ich da spreche. Hat gar nichts mit "Fähner" zu tun.
Drees: Aber man hat den Eindruck, es sei Fähner und als sei dies dann die Fähner-Bearbeitung wie jene von Voltaire.
Schirach: Nicht wirklich.
Drees: Können wir denn sicher sein, dass diese alternative Version – mag sie möglicherweise die "Fähner"-Geschichte inspiriert haben –, die Sie gegenüber Alexander Kluge erzählen, die richtige und wahre ist?
Schirach: Ja natürlich, Herr Drees, oder vielleicht auch überhaupt nicht.
Drees: Vielen Dank, Ferdinand von Schirach! Wir haben uns in diesem "Büchermarkt" unterhalten über Ferdinand von Schirachs neues Buch "Die Herzlichkeit der Vernunft: Gespräche mit Alexander Kluge", Luchterhand Verlag, München, 182 Seiten kosten 10 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.