Ferdinand von Schirachs Erzählungen lassen sich gut beschreiben, indem aufgezählt wird, was sie alles nicht leisten: Es wird keine emotionale Nähe zu den Figuren gestiftet, es gibt weder einen ausschweifenden Witz noch heitere Anekdoten oder wildgewordene Metaphern. Das herabgedimmte Schreiben kennen wir bereits aus Schirachs Erzählbänden "Verbrechen" von 2009 und "Schuld" von 2010. Und auch in seinem neuen, knapp zweihundert Seiten umfassenden Buch "Strafe" geht Schirach diesen Weg.
Die zwölf Geschichten handeln erneut von Leid und Rache, von Sühne und der Unmöglichkeit, einen Menschen seiner Strafe beziehungsweise Rettung zuzuführen. In "Das Seehaus" erzählt Schirach beispielsweise von Felix Ascher, einem Versicherungsangestellten, dessen Leben, wie es heißt, unauffällig, ja, regelrecht verlaufen sei - bis etwas kippt, bis ein Riss sich auftut.
"Mit einer Flasche Wacholderschnaps setzt er sich auf die Bank vor dem Haus und betrinkt sich langsam. Das Gewehr hat er an die Wand neben sich gelehnt. Als es dunkel genug ist, zieht er die rosa Spülhandschuhe an, die er in der Küche gefunden hat."
"Mit einer Flasche Wacholderschnaps setzt er sich auf die Bank vor dem Haus und betrinkt sich langsam. Das Gewehr hat er an die Wand neben sich gelehnt. Als es dunkel genug ist, zieht er die rosa Spülhandschuhe an, die er in der Küche gefunden hat."
Wir ahnen es: Kurz darauf folgt ein Gewaltausbruch. Felix Ascher greift rosabehandschuht zur Waffe, um sich dafür zu rächen, dass ihm die kleine Ruhe genommen wurde, in der er sich eingerichtet hatte. Dabei ist es einerlei, ob vom brutalen Mord oder vom geliebten Großvater die Rede ist: Der Tonfall bleibt derselbe.
Ein Tragik folgt auf die nächste
Bei allen Erzählungen in Schirachs Band stoßen wir auf ein sprachliches Rudiment, auf einen Restbestand an Erzählmaterial, dem jeglicher unnötige Ballast abgeht. Der Autor gesteht sich weder Längen noch Lappalien zu. Kantig stoßen kurze Sätze aufeinander, und allen fehlen die Konjunktionen, die Abers, Trotzdems und Deswegens. Kalt und klar folgt ein Satz auf den nächsten, so wie auch in den erkalteten Leben eine Tragik auf die nächste folgt, eine Unausweichlichkeit auf die nächste. "Der Taucher" etwa handelt von einem Ehepaar, das sich auseinanderlebt. Der Mann driftet nach und nach ab, in Gedanken und Räume, in die ihm niemand folgen kann.
"Mit der Geburt hatte sich alles verändert. Ihr Mann war im Kreißsaal gewesen, er hatte es so gewollt. Der Arzt achtete nicht auf ihn. Später erfuhr sie, dass ihr Mann zugesehen hatte, wie sich ihre Vagina öffnete, dass er ihr Blut, ihren Urin und ihren Kot gerochen haben musste. Der Arzt legte das Kind auf ihren Bauch, er sagte, es sei noch voller Käseschmiere. Das Wort wiederholte er später oft."
Das eigentliche Urteil ist längst gefallen
Mal werden die Figuren wegen ihrer Tat, darunter Mord und gefährliche Körperverletzung, verurteilt. Mal werden sie freigesprochen oder kommen ungeschoren davon. Aber selbst das vermeintliche Happy End tröstet kaum. Es spielt keine Rolle, denn das eigentliche Urteil ist längst gefallen. Die existenzielle Einsamkeit hat sich in diese Leben hineingefressen wie Motten in einst geliebte Wollpullis.
Die vielen solitären Gestalten werden von Schirach in gnadenlos komprimierter Exaktheit gezeichnet. Die Unnachgiebigkeit, die weder Mitleid noch Moralisierung kennt, erzeugt einen starken Sog, eine Leselust, den unerbittlichen Portraitierungen zu folgen. In der Erzählung "Die falsche Seite" begleiten wir den Anwalt Schlesinger, der längst resigniert hat.
"Er schlief auf dem Sofa in der Kanzlei und duschte in einem winzigen Bad hinter der Teeküche. Seine Sekretärin hatte er entlassen. Er hielt sich längst für einen verkommenen Menschen."
"Er schlief auf dem Sofa in der Kanzlei und duschte in einem winzigen Bad hinter der Teeküche. Seine Sekretärin hatte er entlassen. Er hielt sich längst für einen verkommenen Menschen."
Gerade dieser Schlesinger übernimmt den Fall einer Frau, der vorgeworfen wird, ihren Mann erschossen zu haben. So wie der spiel- und alkoholsüchtige Anwalt sich aufgegeben hat, so sieht er auch für seine Mandantin keine Chance. Erst eine Prügelei und ein Hinweis von unverhoffter Seite wenden das Glück. Wobei sich in den Erzählungen in "Strafe" niemand sein Glück eigenmächtig erarbeitet. Es fällt einem vielmehr zu, so wie andere vom Unglück heimgesucht werden.
Die Sprache wird zum Kniff
Solch ein Stil, der nichts an sich heranlässt, ist in dem Sinne wohltuend, als hier keine Psychologisierungen vorgenommen werden, wie sie oft in der Gegenwartsliteratur anzutreffen sind. Die Frau bringt halt den Mann um, nachdem sie eine Haftstrafe absaß, um ihn zu schützen. Dafür braucht Schirach sieben Seiten, einen Balkon, einen wackeligen Stuhl und einen schönen Sommertag. Selten fließen Tränen, nie werden seitenlang Gedanken hin und her gewälzt.
Die zwölf Erzählungen in "Strafe" entziehen sich somit der Sentimentalität und dem GZSZ-haften Weinen, Seufzen und Schluchzen. Zugleich funktioniert dieser Sound fast zu gut. Tatsächlich klingen einige Passagen so, als ruhe sich ihr Verfasser auf der eigenen Stiltechnik aus. Dann wirkt es, als ahme gerade jemand auf perfekte Weise den bekannten Schirach-Ton nach. Die Sprache wird zum Kniff, zum Effekt.
"Sie stieg in ein Taxi, auf dem Armaturenbrett klebten Fotos, eine Frau mit Kopftuch, ein Junge im Fußballtrikot. Der Wagen fuhr über eine Brücke, der Rhein floss breit in der Sonne." - Textstellen wie diese klingen wie ihre eigene Farce. Die erschriebene Gott- und Weltverlassenheit hat plötzlich zu viel Methode.
In "Lydia" geht es um einen vereinsamten Mensch, der sich in eine Sexpuppe verliebt und mit ihr eine Beziehung führt. An einer Stelle heißt es: "Er steckt die Hände in die Hosentaschen und sieht aus dem Küchenfenster."
Er hätte sich auch den Kragen richten und aus dem Badfenster schauen können. Denn Schirach baut darauf, was Roland Barthes den "effet de réel", den "Realitätseffekt" genannt hat. In die Erzählungen sind immer wieder Details eingesetzt, die willkürlich wirken. Zugleich wohnt ihnen eine welthaltige Aura inne, gerade weil sie dann doch Erwähnung finden. Sie strahlen und raunen vor sich hin, sie sind der ontologische Dekor, aus dem sich die Atmosphäre des Existenziellen speist, die die Erzählungen von "Strafe" durchzieht.
Nähe vs. Distanz
Das funktioniert größtenteils überzeugend, aber auch hier lauert die Masche, auch hier besteht die Gefahr, dass ein Schreibverfahren im Leerlauf vor sich hinschnurrt.
Letztlich prallen bei Schirachs schriftstellerischen Arbeiten zwei Systeme aufeinander: einerseits die Literatur, die auf Empathie und menschliche Kommunikation setzt, andererseits das Recht, das keine Menschen und Sympathien, sondern nur Fälle kennt. Nähe vs. Distanz, Nachvollzug vs. Abstrafen, Anerkennung vs. Härte - zwischen alledem pendeln Figuren wie Erzähler, und auch die Leserschaft ist dieser Unvereinbarkeit ausgesetzt.
Mal will sie richten, mal mitfühlen. Sie will Vorurteile bestätigt sehen, zugleich will sie Nachsicht üben. Daran muss sie scheitern, und gerade dieser Zwiespalt zeichnet auch den dritten Erzählband von Schirach aus.
Ferdinand von Schirach: "Strafe". Stories. 189 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, München, gebunden, 18 Euro