Archiv

Fern der Heimat
Geschichten über Flucht und Migration

Das Schicksal von Flüchtlingen beschäftigt derzeit viele Menschen. Kinder und Jugendliche brauchen je nach Altersgruppe einen anderen Zugang zum Thema Flucht und Vertreibung. Genau das schaffen einige aktuelle Bücher auf hohem Niveau. Nicht alle sind für zarte Gemüter geeignet.

Von Maria Riederer |
    Ein Junge sitzt auf einer Tasche am Eingang zur Erstaufnahmeeinrichtung am 7. Juli 2015 in Dortmund
    Ein Junge sitzt auf einer Tasche am Eingang zur Erstaufnahmeeinrichtung am 7. Juli 2015 in Dortmund (dpa / picture-alliance / Ina Fassbender)
    Die Leser und Betrachter von Büchern zu Flucht und Migration erfahren darin, was es bedeutet, fremd zu sein in einem anderen Land, einer anderen Sprache als der eigenen. Sie lesen von Todesangst und Verzweiflung ebenso wie von Hoffnung und neuen Freundschaften. Den Autoren und Gestaltern der ausgewählten Bücher stehen vor der Herausforderung, den Flüchtlingen ein Gesicht zu geben und den Leser mit ihnen auf eine Augenhöhe zu bringen. Ein großes Ziel in einer Zeit, in der von Flüchtlingen hauptsächlich in Zahlen gesprochen wird, sodass sich viele Stimmen gegen die Menschen wenden, die in Europa Schutz suchen.
    "Meine Tante nannte mich Wildfang.
    Dann kam der Krieg, und meine Tante nannte mich nicht mehr Wildfang."
    Eine universelle Geschichte vom Fremdsein nach der Flucht erzählen die Autorin Irena Kobald und die Illustratorin Freya Blackwood in ihrem Bilderbuch "Zuhause kann überall sein". Beide leben in Australien, Irena Kobald ist vor über 30 Jahren aus Österreich dorthin gezogen. Das Mädchen - Wildfang - und sein Heimatland haben keine Namen, obwohl Irena Kobald die Handlung zunächst in Afrika angesiedelt hatte. "Das ursprüngliche Manuskript hat ja noch Hinweise, Namen gehabt, Nationalitäten erwähnt, und auch Länder erwähnt. Wie das Manuskript dann angenommen worden ist bei dem australischen Verlag, musste ich das alles umschreiben, damit die Geschichte universal wird."
    Die innere Einsamkeit eines Kindes in der Fremde
    Das erste Bild vom Rad schlagenden Kind lässt aber ahnen, wo die Geschichte beginnt. Im Hintergrund stehen kleine runde Hütten, Licht und Farben sind warm, es dominieren Rot, Orange und Ocker. Freya Blackwoods Bilder holen den Betrachter ganz nah an das Mädchen heran. In den Farben der Umgebung und der Körperhaltung des Kindes bringt die Illustratorin dessen Gefühle meisterhaft zum Ausdruck. Schon auf der zweiten Seite ist aus dem fröhlichen Wildfang ein Kind geworden, das mit seiner Tante klein und verloren in einer vollen Straßenbahn sitzt. Die Wärme ist aus den Bildern verschwunden. In Irena Kobalds Buch ist das Empfinden von Fremde das wesentliche Element der Flucht. Nicht der Fluchtweg ist wichtig, nicht die Gegebenheiten in der Heimat und dem Ankunftsland. Hier geht es um die innere Einsamkeit eines Kindes in der Fremde.
    "Die Leute waren fremd. Das Essen war fremd. Die Tiere und Pflanzen waren fremd. Sogar der Wind fühlte sich fremd an. Niemand sprach so wie ich. Wenn ich auf die Straße ging, fühlte es sich an, als stünde ich unter einem Wasserfall aus fremden Wörtern. Und der Wasserfall war kalt. Dann fühlte ich mich allein.
    Es war als wäre ich nicht mehr ich."
    Der Wasserfall aus Wörtern ist bei Freya Blackwood eine Fontäne spitzer, scharfkantiger kleiner Gegenstände. Sie fliegen aus den Mündern der satten und lauten Menschen und prasseln auf das kleine Mädchen ein. Zuflucht vor dieser schmerzlichen Kaskade ist für das Kind eine Decke aus vertrauten Wörtern und Erinnerungen. "My two blankets" - "Meine beiden Decken", so heißt das Buch im englischen Original. "Eine Decke, eine Sprache, in der man sich wohlfühlt, ob das jetzt mein Steirischer Dialekt ist oder ob das Englisch ist, da fühl ich mich wohl drinnen. Da bin ich der Mensch, der ich wirklich bin."
    Freya Blackwood webt in ihren Bildern das Vertraute mit den Farben und Formen des Ursprungslandes - sie zeigt Gazellen und Kalebassen, Fische, tönerne Töpfe - alles ist rund, erdig und voller Sonne. Je mehr das Mädchen sich in der neuen Heimat und Sprache zurechtfindet, umso größer wird ihre neue Decke, in der aber bis zum Ende ein kühlerer Wind weht. Der deutsche Titel "Zuhause kann überall sein", ist arg einfach gestrickt. Denn gerade das kommt in Text und Bildern so eindrücklich zum Vorschein: Wie schwer es ist, sich das Gefühl von Heimat und die eigene Identität in der Fremde zu bewahren.
    Das Trauma der Herrschaft Pol Pots
    Viele Flüchtlinge tragen schwer an ihren Traumata. Patricia McCormick hat eine solche Geschichte aufgeschrieben. Erzählt hat sie ihr Arn Chorn Pond, ein Mann aus Kambodscha, der heute in New York lebt und in seiner Kindheit zunächst vor den Roten Khmer flüchten musste und dann von ihnen als Kindersoldat missbraucht wurde. Patricia McCormick hat daraus unter dem Titel "Der Tiger in meinem Herzen" einen Roman für Leser ab 16 Jahren gemacht.
    "Ganz Kambodscha ist auf den Beinen. Hunderttausend Menschen mit hunderttausend Sachen. Vor allem Reis. Aber auch alle möglichen verrückten Sachen. Ein kleines Mädchen, das noch seine blaue Schuluniform anhat, trägt einen rosafarbenen Stoffhasen, fast so groß wie sie selbst."
    Beim Lesen vermisst man zunächst eine historische Einordnung. Was passiert in diesem Land? Warum müssen die Menschen die Stadt Phnom Penh verlassen und was wollen die Roten Khmer? Diese Fragen werden erst im Nachwort geklärt. Es überwiegt das Interesse an den Erlebnissen des elfjährigen Arn. Unzählige Kinder haben das Pol-Pot-Regime, das in Kambodscha in den 70er-Jahren ein Viertel der Bevölkerung ausgelöscht hat, miterlebt und überlebt. Patricia McCormick beschreibt nicht nur die beispiellose Grausamkeit, mit der die Menschen gequält und getötet wurden. Sie schaut vor allem tief in die Seele des Kindes Arn, der sich durch Klugheit, durch einen Rest kindlicher Leichtigkeit und durch seine Liebe zur Musik durch das Grauen hindurch rettet. Seine Flucht nach innen kann ihn aber nicht davor bewahren, dass sich dort das niederlässt, was die Autorin den "Tiger in seinem Herzen" nennt.
    "Der 'Tiger in meinem Herzen' - das bezieht sich auf den Ärger, die Wut, die Verzweiflung und Verwirrung, die sich in diesem Jungen eingenistet haben, als er gezwungen war, beim Töten zuzusehen und dann auch selbst zu töten, als Kindersoldat. Auch als er die Schrecken der Roten Khmer hinter sich lassen kann, auch dann noch hat er dieses schreckliche Aggressionspotential in sich. Weil er eben zum Killer trainiert wurde."
    Nichts für zarte Gemüter
    "Der Tiger in meinem Herzen" ist ein tief verstörendes Buch, das auf keinen Fall für zarte Gemüter geeignet ist. Aber es ist auch ein sehr wichtiges Buch, denn es beschreibt die schwere Traumatisierung eines Jungen, der die tiefsten, menschlichen Abgründe erlebt und dabei Schuldgefühle in sich angehäuft hat. In seiner neuen Heimat Amerika hilft ihm zunächst keiner, diesen inneren Tiger zu bezwingen.
    "Die Menschen dort haben Angst, sie wissen nicht, wer du bist, was du erlebt hast - eine Unwissenheit, die verletzend sein kann für die Person, die gerade angekommen ist und die nur eins will: Dazugehören, ein Teil dieses neuen Ortes zu werden."
    Im amerikanischen Original lässt Patricia McCormick Arn in der holpernden Sprache des Elfjährigen erzählen, der durch seine Geschichte führt und sie dabei selbst noch einmal durchlebt. Die Übersetzerin Marin Illinger hat den Text im Deutschen geglättet, aber Arns Geschichte bleibt durch und durch authentisch. "Der Tiger in meinem Herzen" vermittelt eine Ahnung davon, welche schweren Verletzungen sich in den Herzen vieler Flüchtlinge - auch heute - verbergen können und welche Folgen das im Zusammenleben haben kann.
    Vertreibung aus Schlesien
    Der Autor Daniel Höra hat sich in seinem Jugendbuch "Das Schicksal der Sterne" einer Fluchtgeschichte im eigenen Land gewidmet. "Das Schicksal der Sterne" erzählt von Karl, der in der Gegenwart lebt und der in seiner Kindheit die Vertreibung aus Schlesien erlebt hat. Immer wieder holen ihn die Erinnerungen ein - an Angst, Gefahren, Verlust, Überanstrengung und Hunger. Auch er ist - wie Arn - ein schwer traumatisiertes Kriegskind. Die Leser lernen ihn erst kennen, als er schon alt ist.
    "Eine Haupt-Inspirationsquelle war vor allem mein Vater, der als sechsjähriger Junge mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Schlesien flüchten- beziehungsweise vertrieben worden ist, damals von den Russen, und war auch immer eine ganz starke Sehnsucht zu spüren nach der alten Heimat, und das hat mich nicht mehr losgelassen."
    "Auf der Straße, die nach Norden führte, fand eine regelrechte Völkerwanderung statt: Pferdefuhrwerke, Handkarren, Fahrräder, dazwischen hin und wieder ein Automobil - doch die meisten Menschen waren zu Fuß unterwegs. Es erinnerte Karl an einen endlos langen, müde dahin kriechenden Wurm. Gespenstische Gesichter schoben sich vorbei, den Blick nach innen gewandt, als würden sie dort nach etwas suchen. Sie haben Angst, dachte Karl."
    Als Karl durch Zufall dem jungen afghanischen Flüchtling Adib begegnet, bekommen seine Erinnerungen ein neues Gesicht. Vorlage für Adib war ein junger Flüchtling aus Berlin. "Omid, der mit 15 Jahren aus Afghanistan geflüchtet ist und eine mehrmonatige Odyssee durch Europa hinter sich hatte. Den hab ich in Berlin kennengelernt und hab mich mit ihm getroffen und er hat mir erzählt seine ganze Geschichte, und auch der Tod seines Vaters, die Verfolgung durch die Taliban und eben auch die Zustände der Flüchtlinge."
    Parallelen zur Flucht aus Afghanistan
    "Auf der anderen Seite ist Europa", sagte der Schlepper, "Ihr werdet dort von unseren Freunden erwartet. Wenn ihr nah genug an der Küste seid, werden sie euch mit einem Licht zeigen, wo ihr hin müsst. Und jetzt viel Glück." Mit diesen Worten verschwanden die Schlepper. Die Menschen verteilten sich auf die zwei Boote, die bald hoffnungslos überladen waren. Adib sah hinaus aufs Meer, das sich unter ihm bewegte wie ein gefräßiges Tier. Er konnte nicht schwimmen."
    Karl und Adib treffen sich durch Zufall in Berlin, in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Sie freunden sich an und stellen fest, dass sie Erfahrungen von Flucht und Verlust teilen. In Rückblenden erfahren die Leser von den beiden Fluchtgeschichten, die so packend erzählt sind, dass jede für sich stehen könnte. Das ist die Stärke, gleichzeitig aber auch die Schwäche des Buches. Die Überleitungen zwischen den Zeitsträngen wirken mitunter gewollt, der Erzählfluss leidet darunter. Gleichzeitig faszinieren die Parallelen zwischen beiden Fluchtgeschichten, die in so unterschiedlichen Kontexten stattfinden. "Das ist Flucht aus der Heimat, Entwurzelung, Krankheit, Angst, Hunger, Tod, Bedrohung. Das ändert sich ja nicht, das ist einfach da - ob das nun vor 70 Jahren geschehen ist oder heute, das ist völlig egal, und es wird in 100 Jahren immer noch so sein."
    Daniel Höra nimmt sich nicht ein einzelnes Schicksal vor, sondern er bildet in seinem Buch die aktuelle Situation mit all ihren Facetten ab: Die noch lebenden Flüchtlinge der Nachkriegszeit und die aktuellen Fluchtbewegungen mitsamt der Bedrohung durch Fremdenfeindlichkeit und drohende Abschiebung. Damit dieses sehr ambitionierte Gebäude aus Vergangenheit und Gegenwart nicht auseinanderfällt, bringt der Autor Karls Nichte Marie ins Spiel. Eine wichtige dramaturgische Entscheidung. Denn Marie baut mit jugendlicher Leichtigkeit eine Brücke zwischen den verschiedenen Ebenen - und zum Leser. "Da ist zum einen Adib, der aus 'nem völlig anderen Kulturkreis kommt, und dann ist da dieser alte Mann, und ich möchte natürlich für den heutigen Leser, auch für den jungen Leser, eine Figur haben, die ihn an die Hand nimmt, die ihn versteht oder die er versteht."
    Jugend im Warschauer Getto
    Ein Buch für jugendliche Leser kann es wagen, auch die grausamen abgründigen Momente zu schildern, die den Menschen im Krieg oder auf der Flucht widerfahren. Patricia McCormick und Daniel Höra zeigen, dass und wie das möglich ist. In einem Kinderbuch sieht das anders aus. Der polnische Autor Marcin Szczygielski hat mit seinem Roman "Flügel aus Papier" eine Gratwanderung gewagt. In dem Buch für Kinder ab zehn Jahren erzählt er die Geschichte von Rafał, einem jüdischen Jungen aus dem Warschauer Ghetto. Rafał ist ein gewitztes Kind. Er hat sich im sogenannten "Bezirk" gut arrangiert, kennt Schleichwege und Tricks, um an den Wachen vorbeizukommen. Die drohende Gefahr eines Abtransportes durch die Nazis begreift er nicht. Als das Ghetto geräumt werden soll, schickt der Großvater Rafał fort. Er soll sich in dem leeren Warschauer Zoo verstecken, in dem auch andere Kinder Zuflucht gefunden haben. Rafał fällt aus allen Wolken. Er sieht nicht die Rettung, sondern nur den Abschied.
    "'Wann muss ich wegfahren?' – Ich spüre, wie meine Augen zu brennen beginnen.
    'Heute'. Großvater wendet sich ab und schaut aus dem Fenster.
    Ich schlucke. Heute soll ich fahren? Jetzt gleich? Es fühlt sich an, als hätte ich ein Eisbällchen in mir, gleich hinter den Rippen. Ich möchte weinen, aber meine Augen wollen nicht feucht werden. Mit zitternden Fingern hole ich die Hemden aus dem Schrank und breite sie auf dem Bett aus. Dann klopfe ich die Hose aus. Ich nehme die Fotografie von Großvater vom Tisch und eine zweite mit meinen Eltern."
    Flucht in Träume und Fantasie
    Ein tief anrührender Moment. Für den Leser wird schnell deutlich, dass auch dies ein Aspekt von Flucht ist: Wer geht, lässt andere zurück. Für Rafał ist das der Großvater, den er schmerzlich vermisst und für den er später viel riskiert. Der Autor, der selbst in Warschau lebt, nimmt die kindliche Perspektive seines Ich-Erzählers ein. Man hört förmlich die Zähne knirschen, wenn der Junge sich zusammenreißt, um im Moment des Abschieds nicht zu weinen. Wenig später kann er aber schon wieder lachen und staunen. Rafałs pechschwarze Haare werden gefärbt, damit er auf der Straße weniger auffällt.
    "Mein Kopf juckt und beißt immer ärger. Ich presse die Lippen zusammen und kralle die Hände ineinander. Die Füße kann ich auch nicht mehr stillhalten.
    'Fertig' sagt endlich die Frau.
    Ich nehme das Handtuch und rubble mir die Haare trocken.
    'Großer Gott …' sagt die Frau entsetzt.
    Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Meine Haare sind nicht mehr schwarz. Sie haben die Farbe einer reifen Tomate. Sie sind leuchtend rot. Mit weit aufgerissenen Augen bestaune ich mich ausführlich im Spiegel und drehe den Kopf nach allen Seiten."
    "Flügel aus Papier" ist ein Wagnis, weil es mit den Extremen spielt. Es verbindet eine heitere und poetische Erzählweise mit einem todernsten, historischen Hintergrund. Spätestens seit Roberto Benignis erfolgreichem Film "Das Leben ist schön" weiß man, dass die Verwandlung dieser Realität in ein Spiel den Ernst der Lage keineswegs verharmlosen muss. Marcin Szczygielski bringt Märchenhaftes und Fantastisches ins Spiel. Er gibt seinem Helden die Bücher von Jules Vernes und H.G. Wells in die Hand und schickt ihn auf eine Zeitreise ins 21. Jahrhundert. Rafał entkommt der Verrohung seiner Zeit durch gute Freunde, durch Träume und Fantasiereisen.Jugend ohne Hoffnung in der DDRWas haben Irena Kobalds Mädchen, was haben Karl, Adip und Arn gemeinsam mit diesem Rafał aus dem Warschauer Ghetto? Sie alle müssen vor einer Bedrohung fliehen. Keiner von ihnen geht freiwillig und keiner fühlt sich wirklich sicher dort, wo er ankommt. Der eigentliche Verlauf der Flucht spielt dabei, wenn er überhaupt erzählt wird, keine größere Rolle als die Erfahrungen am Zielort. Bei einem der ausgewählten Romane ist das anders. Das Jugendbuch "Jenseits der blauen Grenze" von Dorit Linke. Sie begleitet darin jeden Schritt – nein, jeden Zug des Fluchtweges.
    "Wenn die Strömung mitspielt, schaffen wir die Strecke in 25 Stunden. Momentan herrscht ablandiger Wind. Wenn es dunkel wird, werden wir losschwimmen, dann sind wir schon ein Stück weit vom Land entfernt, wenn die Boote in der Morgendämmerung nach Flüchtlingen suchen. Kommt eine Patrouille, tauchen wir unter und atmen durch unsere Schnorchel, die ich gestern im Keller mit Plastikschläuchen verlängert habe."
    Jenseits der Ostsee liegt Westdeutschland – das Ziel Hanna und Andreas, aus der DDR. Die beiden jungen Leute wollen die BRD schwimmend erreichen, und der Leser kann nicht anders, als mit zu schwimmen. Dorit Linke war selbst Leistungssportlerin und ist an der Ostsee aufgewachsen.
    "Nach wenigen Minuten weiß ich, was ich schon lange weiß. Es ist alles ganz anders als im Schwimmbad. Ulrich ist nicht hier, keiner gibt Anweisungen. Wir sind auf uns allein gestellt. Aus der dunklen Tiefe steigen Blasen auf. Leise schwimmen wir hinaus auf die Ostsee – nach Norden."
    Leise Anzeichen von Unterdrückung
    Die Geschichte von Hannah und Andreas und von ihrem Freund Sachsen-Jensi, von einer Jugend in der DDR und der Flucht über das Wasser enthält eine besondere Dramatik: Sie spielt kurz vor dem Mauerfall. Aber davon wissen die jungen Leute nichts. Sie riskieren ihr Leben, um den Repressalien des DDR-Regimes zu entgehen, denen sie immer stärker ausgesetzt sind. Dabei klingt es zunächst harmlos, manchmal grotesk und oft urkomisch, was die Jugendlichen in ihrer Schulzeit erleben.
    "Wir hatten alle keine Lust auf den Ersten Mai und die Demonstrationen. Andreas hatte sein FDJ-Hemd nicht an und bekam gleich Ärger mit Frau Thiel.
    'Kuschwitz, das war ja klar, Sie ohne Hemd! Was haben Sie dazu zu sagen?' – 'Ich habe dazu zu sagen, dass ich den Klassenstandpunkt auch ohne Hemd vertreten kann.' Sie wurde blass. 'Darauf legt hier aber niemand Wert. Abmarsch. Leute wie Sie braucht das Land nicht.'
    'Weißt du was', schrie Sachsen-Jensi mir ins Ohr. 'Mit der Freundschaft zur Sowjetunion steht es nicht mehr gut, seit Perestroika und Glasmost.'
    'Das heißt Glasnost. Nicht Glas Most, ist schließlich nichts zu trinken!'
    Sachsen-Jensi war das egal, er schwenkte wie wild seine Fahne."
    Leise aber unüberhörbar schleichen sich in eine eher unbeschwerte Jugend immer mehr Anzeichen von Unterdrückung und Einschränkungen im eigenen Lebensweg. Dass die beiden fliehen werden, erfährt der Leser gleich auf der ersten Seite. Die Autorin erzählt in alternierenden Kapiteln vom Wachsen der schwerwiegenden Entscheidung und von der eigentlichen Flucht. Der nackte Kampf mit dem unendlichen Ozean nimmt einem beim Lesen buchstäblich die Luft. Was es bedeutet, sich einem Element auszusetzen, das keine Gnade kennt und das die Schwimmenden mit seiner Kälte, dem Salz, den heftigen Strömungen ständig an den äußersten Rand ihrer körperlichen und mentalen Kräfte bringt, vermittelt dieses Buch so eindrücklich wie kein anderes. Für Hannah und Andreas gibt es nicht einmal ein Boot. Sie haben nur einander. Und selbst diese minimale Sicherheit ist irgendwann plötzlich weg. Es bleibt die schiere Verzweiflung.
    "Er ist nicht mehr da.
    Ich bekomme keinen Ton raus. Knalle die Hand aufs Wasser.
    Ich muss mich irgendwo festhalten, brauche Widerstand.
    Doch ich greife ins Nichts.
    Hier ist nichts, kein Mensch, kein Boot, kein Halt, nirgendwo.
    Ich werde irre.
    Was habe ich getan?
    Ich werfe mich auf den Rücken, heule mit offenen Augen, bis mir auch dafür die Kraft fehlt."
    Menschen im Nirgendwo
    Eine Jugend in der DDR mit vielen lustigen Episoden scheint im Vergleich zu Arns Erlebnissen aus Kambodscha oder zu Adibs und Karls Erfahrungen in Schlesien und Afghanistan harmlos zu sein. Die Jugendlichen sind nicht in Lebensgefahr, aber ihr Blick in ihre Zukunft ist ohne jede Hoffnung. So geht es auch vielen der zahllosen Bootsflüchtlinge, die in unseren Tagen auf dem Meer ertrinken. Es ist nicht relevant, aus welchem Land ein Flüchtling kommt und in welches Land er geht. Wichtig ist, was er erlebt und was ihn treibt. Kinder- und Jugendbücher, die das vermitteln, sind Schätze in der heutigen Zeit.
    Neben einem Bilderbuch und Romanen für verschiedene Altersgruppen darf auch ein ganz besonderes Sachbuch nicht fehlen, das ursprünglich gar nicht als Jugendbuch geplant war und auch nicht als solches beworben wird. Der Österreicher Christoph Miler, der heute in der Schweiz lebt, hat sich die Geschichten von so gennannten Irregulären, also von illegalen Migranten erzählen lassen, die es in die Schweiz verschlagen hat. "So haben sich mehr als sechs Geschichten am Ende auf meinen Notizblättern befunden, und die waren aber recht fragmentarisch, und ich wusste, da ist noch bisschen Arbeit notwendig, um die Geschichten literarisch ansprechend zu machen und gleichzeitig aber auch glaubwürdig."
    Am Ende dieses Unternehmens steht nun ein Buch mit dem Titel "Nowhere men" – Menschen im Nirgendwo.
    "In Mumbai war ich Näherin. Beim Nähen entstehen immer diese typischen Geräusche: Tuk, tuk, tuk. Das kommt zustande, wenn sich die Nadel der Maschine auf- und abbewegt. Beim Herablassen schlägt sie durch den Stoff, muss ihren ganzen Schwung bremsen und von neuem beschleunigen. Und dann gibt es dieses Tuk. Man muss sich das vorstellen: 2.000 Frauen nähen, 2.000 Nähmaschinen tuken. In unserem Raum war es fast unerträglich laut. Tuk Tuk Tuk, das war der Rhythmus der Fabrik."
    Die Protagonisten in Milers Geschichten kommen aus Indien und Kamerun, Eritrea und Georgien, Brasilien und dem Irak. Miler, der eigentlich Grafik-Designer ist und zunächst gar nicht vorhatte, aus den Geschichten ein Buch zu machen, hat die Erzähl-Fragmente in gut leserliche Texte verwandelt, hat aber den spröden und knappen Ton des mündlichen Originals erhalten. So wirken sie stellenweise ein wenig holprig, aber umso authentischer. Deshalb will man die Personen durch ihre Geschichten hindurch begleiten, wissen, wie es weitergeht nach ihrer Entscheidung, sich auf den Weg zu machen und der Versklavung, der Armut und Hoffnungslosigkeit zu entgehen.
    Zeit, etwas zu riskieren
    "Ich sah meine Kinder an. Ich sah die halb zerrissene Anzeige für einen Job als Haushälterin in Kuwait an. Ich hatte sie am Tag zuvor in der Zeitung gefunden und aufgehoben. In mir baute sich eine große Sehnsucht auf. Eine Sehnsucht nach Veränderung, einem anderen, besseren Leben. Kuwait, das klang nach einer Chance. Kuwait … Vielleicht war es an der Zeit, etwas zu riskieren."
    Der Autor unterbricht die jeweiligen Lebensgeschichten durch Fotos, auf denen, meistens unkommentiert, seine Assoziationen zum globalen Kontext der individuellen Erlebnisse abgebildet sind. So begleitet er die Geschichten mit Fotos, Grafiken und Zeitungsausschnitten zum Beispiel aus der Elektronik- oder Textilherstellung oder aus den Konsumtempeln des reichen Westens. Miler bedient sich der grafisch-literarischen Formen, um die vielen Perspektiven der Thematik wiederzugeben. Der Leser kann diese Formen zunächst einfach nur betrachten, ohne sie schon verstehen zu müssen. Doch im zweiten Schritt wird er anfangen, Fragen zu stellen. "Und ich trau den Menschen, die das Buch in die Hand nehmen<ins cite="mailto:Riederer" datetime="2015-06-19T09:59">,</ins> aber gleichzeitig auch eine gewisse Kompetenz und Fähigkeit zu, diese Brücken zu schlagen, wie die Welt eigentlich aussieht, in der wir leben und welche Konsequenzen das eigene Handeln haben kann."
    Christoph Miler schafft es auf ganz andere Weise als die Roman- oder Bilderbuchautoren, den einzelnen Flüchtlingen ein Gesicht zu geben. Sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" - ein mit Recht umstrittener Begriff - werden aus der Anonymität herausgehoben. Gleichzeitig wird der Leser in die Pflicht genommen, sich den Ursachen von Armut und Ungerechtigkeit zu stellen.
    Jedes Kind, jede Altersgruppe braucht einen anderen Zugang zu dem großen und aktuell brisanten Thema Flucht und Vertreibung. Unter den aktuellen Titeln gibt es viele solcher Zugänge, die Liste könnte noch weitergeführt werden. Die Flüchtlingsströme reißen nicht ab, und es ist zu hoffen, dass auch in der Kinder- und Jugendliteratur nicht aufgehört wird, auf hohem Niveau über die Gründe und Folgen der Migration aus Not zu erzählen.