"Eingefahrener Zug aus Gleis 15, S5 nach Hoppegarten, über Friedrichstraße, Ostkreuz."
Die S-Bahnlinie 5 durchquert Berlin komplett. Von Spandau im äußersten Westen bis Hoppegarten, tief im Osten. Eine Selbstverständlichkeit heute - noch zu Mauerzeiten undenkbar. Die Grenze zwischen Ost und West war auch eine Grenze für die Berliner Verkehrssysteme - jedenfalls offiziell. Inoffiziell sah die Sache anders aus. Vieles ging nur gemeinsam - oder eben gar nicht. Die S-Bahn in West Berlin wurde nach 1961 nämlich noch von der Reichsbahn der DDR betrieben. Der Strom kam aus dem Osten, die Mitarbeiter aus dem Westen, ihre Vorgesetzten aus dem Osten, die Uniformen aus dem Osten wurden ausgegeben im Westen. Ein Reichsbahner war damals eben irgendwas zwischen Ossi und Wessi, sagt Udo Dittfurth, vom Berliner S-Bahn Museum:
"Die Kollegen kriegten dann ein Sozialversicherungsbuch der DDR, gingen in die Reichsbahnpolikliniken wenn sie krank waren. An Feiertagen fuhr in Westberlin die Reichsbahn mit der DDR Flagge. Sie bekamen bis 1964 60 Prozent West, 40 Prozent Ost, bzw. Gutscheine, mit denen sie in Ostberlin dann auch kaufen konnten."
Grenzgänger in geheimer Mission
Später gab es dann ausschließlich Westgeld - ausgezahlt von der DDR S-Bahn, deren alleroberster Leiter pikanterweise ein Westberliner und parteilos war. Ein Grenzgänger, von dem nur wenige wussten. Und was für die Angestellten galt, galt auch für Züge. Für die rot-ockerfarbenen S-Bahnen war der Grenzübertritt am Bahnhof Friedrichstraße weit unkomplizierter als für die Menschen:
"Solange die Deutsche Reichsbahn einheitlich den Betrieb durchführte, wurden alle die in Westberlin eingesetzten Fahrzeuge in Ostberlin im damaligen Reichbahnausbesserungswerk Schöneweide gewartet. Man hat dann die Züge über Verbindungsgleise am Bahnhof Friedrichstraße, die dann extra unter Strom gesetzt wurden, gefahren. Man hat über diese Gleise auch hier und da mal Züge ausgetauscht, wenn in Westberlin zum Beispiel zur Fußballweltmeisterschaft 1974 zusätzliche Züge benötigt wurden, hat man Züge aus Ostberlin nach Westberlin oder auch andersrum gefahren."
Gleiches galt für die U-Bahn. Im Untergrund gab es geheime Verbindungen, wo obendrüber schon Mauer und Stacheldraht standen. Ortstermin in Berlin Mitte in der Nähe der Waisenstraße mit Joachim Gorell von der BVG, der das unterirdische Netz in Berlin wie seine Westentasche kennt:
"Also jetzt befinden wir uns in dem Waisentunnel. Der Bau ist schon vor dem Ersten Weltkrieg angefangen worden, und später mit dem Bau der U5 hat man dann hier einen Verbindungstunnel von der U5 zur U8 eingebaut."
Ein politisch brisanter Tunnel. Denn die Ost U-Bahnlinie 5 lag rein auf Ostberliner Gebiet, die U8 wurde von Westberlin betrieben und durchquerte ohne Halt in Nord-Süd Richtung das Gebiet der DDR im Untergrund. Die an der Strecke liegenden Geisterbahnhöfe waren abgedunkelt und mit DDR-Posten besetzt. In Ostberlin wurde darüber nie gesprochen, erinnert sich Jens Wiesecke vom Berliner Fahrgastverband:
"Dort ging es dann sogar soweit, dass es gar nicht mehr bekannt war, dass es dort Transit-U-Bahnlinien gab. Das ist insbesondere bei der U-Bahnlinie 8 ist das kein Wissen mehr gewesen. In der Friedrichstraße war das noch städtebaulich zu erkennen, dass es da U-Bahntunnel gab, aber bei der 8 hat sich das sozusagen verwischt."
Politisch brisanter Waisentunnel
Und das war so gewollt. Fluchten durch den Waisentunnel wollte die DDR Führung unbedingt verhindern. Das sieht man noch heute, sagt Joachim Gorell:
"Das heißt, wenn wir jetzt kombinieren, treffen wir irgendwann in dem Tunnel auf die Grenze. Wenn wir uns noch mal umdrehen, sehen wir da diesen kleinen Raum, dort saßen die Posten."
Ein winziger Raum, vier kahle Wände aus Beton. Jahrelang war es auch für die Posten ziemlich still im Waisentunnel. Ab und zu wurde er benutzt für Bauzüge, später auch um Züge zu überführen, die die DDR im Westen gekauft hatte. Nach ein paar Jahren wurden die Posten abgezogen. Dann schloss die DDR die Tore der großen Wehrkammern im Tunnel unter der Spree. Eigentlich sollte so die U-Bahn vor dem Wasser geschützt werden. Jetzt war hier kein Durchkommen mehr – für fast niemanden.
"Ein Kollege ist tatsächlich gekommen zu Fuß vom Alexanderplatz, vom Bahnhof, da gab's keine Posten mehr. Das Tor war zu. Dann ist er dort hochgeklettert, hat das Tor aufgekurbelt. Dort sind die dann hingegangen, also wo wir auf die U8 treffen, haben den nächsten Zug angehalten, dann sind die vorne rein, haben sich unten hingehockt und Moritzplatz waren sie dann im Westen."
Bis 1989 fuhren die Transit-U-Bahnlinien 6 und 8 unter Ostberliner Gebiet durch die Berliner Mitte. Bereits am 10. November wurde wieder zusammengearbeitet, als ein Wartburg vor der Zentrale der West BVG in Schöneberg hielt, erinnert sich Udo Dittfurth
"Drinnen saß der Chef der Verkehrsbetriebe Ost, um einfach in dieser wunderschönen aber verkehrlich hochdramatischen Situation auf kurzem Dienstwege Vereinbarungen zu treffen. Und eine der allerersten Vereinbarungen war, die faktische Übernacht-Öffnung, schon am 11. November wurde der –U-Bahnhof Jannowitzbrücke eröffnet."
Das U-Bahnnetz wuchs im Rekordtempo wieder zusammen, das S-Bahnnetz ein wenig langsamer. Gemeinsamkeiten und Zusammenarbeit in Zeiten der Teilung - freiwillig und unfreiwillig - jetzt zahlte sich das aus:
"Dort hat Ost- und Westberlin stillschweigend zusammengearbeitet, und es war auch immer klar, zumindest den Technikern, dass man das U-Bahnnetz nicht so verändern kann, dass eine theoretische Wiedervereinigung zu schwierig sein würde. Also ist die S-Bahn und U-Bahn trotz allem faktisch Trennenden auch immer ein Bindeglied zwischen den beiden Stadthälften gewesen."