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Ferne Welten

Auf dem goEast-Filmfestival hat der russische Film "Der Heizer" die Goldenen Lilie, den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis, gewonnen. Das Wiesbadener Festival hat sich mit seiner elften Auflage als bedeutende Plattform für das mittel- und osteuropäische Kino etabliert.

Von Kirsten Liese |
    Eine klirrende Kälte prägt die Atmosphäre in gleich mehreren Filmen im Programm des elften Wiesbadener goEast-Filmfestivals. Schaurige Existenzkämpfe sind da zu erleben: Von Männern, die in den verschneiten Wäldern der sibirischen Taiga schwer verletzt nach einem Fluchtweg suchen und von wilden Hunden angefallen, gar zerfleischt werden.

    Oder von einer geheimnisvollen, sterbenskranken Schneekönigin, die ihre ganze Wohnung absichtlich vereist wie eine Gefriertruhe. Stilistisch könnten diese Produktionen kaum unterschiedlicher ausfallen, - mal poetisch, mal surreal, mal beklemmend real.
    Besonders unter die Haut ging der kroatische Wettbewerbsbeitrag "Mutter des Asphalts". Er erzählt von einer arbeitslosen Frau, die aus ihrer zerrütteten Ehe ausbricht, nachdem ihr Mann sie geschlagen hat, sich aber keine eigene Wohnung leisten kann. In der Not nächtigt sie mit ihrem kleinen Sohn im Auto, einmal auch in einem Einkaufszentrum, und das ausgerechnet zur kältesten Jahreszeit. Ein Zeitungsartikel über einen solchen wirklichen Fall inspirierte den Regisseur Dalibor Matanic. Wie er später feststellen sollte, traf er damit nicht nur tief in eine Wunde der Gesellschaft auf dem Balkan:

    "Als die Dreharbeiten begannen, erschien ein weiterer Artikel über eine Frau, die mit ihrem Kind nachts im Auto schläft, und als wir dann unsere Premiere in Zagreb hatten, erschien noch ein dritter Artikel über einen solche parallelen Fall. Das ist wirklich kaum zu glauben, aber das ist noch nicht alles. Als wir den Film auf einem südkoreanischen Festival präsentiert haben, kam nach dem Screening ein Junge zu mir und sagte, dass er auch als kleiner Junge mit seiner Mutter die Nächte in einem Einkaufszentrum in Korea zubrachte. Das hat mich regelrecht schockiert."

    Dalibor Matanic ist international noch nicht so bekannt wie seine bosnische Kollegin Jasmila Zbanic, die 2006 auf der Berlinale den Goldenen Bären für ihr bewegendes Mutter-Tochter-Drama "Esmas Geheimnis" gewann. Aber er nimmt ebenso feinfühlig die Perspektive starker Frauenpersönlichkeiten ein, versteht sich überzeugend auf ein anspruchsvolles Kino der kleinen, präzisen Gesten und aufmerksamen Blicke.

    Überhaupt ist es schön zu erleben, dass sich das goEast mit seinem älteren Bruder in Cottbus nicht so in die Quere kommt wie die großen A-Festivals in Cannes, Berlin, Venedig und Locarno, die um die besten Filme konkurrieren. Die neue Festivalleiterin in Wiesbaden, Gaby Babic, begrüßt es vielmehr sogar ausdrücklich, dass es in Deutschland zwei Plattformen für das osteuropäische Kino gibt:

    "Wir sind ja auch unterschiedlich, was die Ausrichtung und die Fokussierung anbelangt, ja, das goEast explizit auch immer filmhistorisch arbeitet, [ein Symposium zu haben und auch der ganz explizite Fokus auf Autorenfilm] und Cottbus manchmal womöglich ein bisschen mutiger ist, was Mainstreamkino anlangt."

    Mit seinem Schwerpunktthema Flucht und Migration leistet goEast zudem einen Beitrag zur aktuellen politischen Diskussion, denkt man an die Flüchtlingswelle in Nordafrika. Hervorgehoben sei das bewegende, großartige belgische Drama "Illégal". Eine Russin und eine Schwarze, die sich in Belgien vergeblich um Asyl beworben haben, zögern darin noch nicht einmal, sich selbst stark zu verletzen, um nicht abgeschoben zu werden.

    Festivalleiterin Gaby Babic wuchs selbst als Kind von Gastarbeitern aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland auf und ist folglich für dieses Thema besonders sensibilisiert. Es ist ihr ein großes Anliegen, darüber aufzuklären, wie menschenunwürdig die Zustände selbst in westeuropäischen Abschiebegefängnissen sind:

    "Das Schlimme ist, dass es kaum ein Bewusstsein gibt in der Öffentlichkeit, dass es an Flughäfen richtige Gefängnisse gibt für Menschen, die sich in einem Transitbereich aufhalten und nicht an die Öffentlichkeit dringt, was da alles passiert, auch an Menschenrechtsverletzungen, Repressionen und Gewalt."

    Man mag sich kaum vorstellen, wie katastrophal die Lebensumstände solch verzweifelter Heimatloser sein müssen, wenn sie trotz düsterer Aussichten nichts von ihrer Identität preisgeben.

    Mitunter geht es im russischen Kino so düster zu, dass es sich nur mit Galgenhumor verkraften lässt. Alexey Balabanovs Gangsterdrama "Der Heizer" ist so ein Film, der lakonisch von Profitgier, Abgestumpftheit und kaputter Moral erzählt. Er gewann die Goldene Lilie für den besten Spielfilm und den Fipresci-Kritikerpreis.

    Dass sich die meisten Russen trotz bitterster Nöte ein menschliches Herz bewahrt haben, wie der Regisseur Slava Ross betont, ist der einzige Trost, der bleibt:

    "Das Leben in Russland ist und war immer hart. Vor allem in der Provinz sind die Menschen unendlich müde, hoffnungslos nicht auf der Strecke geblieben. Ich weiß nicht, ob das genetisch bedingt ist, ob es der Glaube ist, der das bewirkt, oder ob das eine Mentalitätsfrage ist. Aber in den entscheidenden Momenten, wenn jemand ansatzweise vielleicht auch grausam ist, siegen immer das Erbarmen, Mitleid und die Menschenwürde."