Wir schauen mehr lineares Fernsehen, aber wir schauen nicht neueres Fernsehen. Laut der Arbeitsgemeinschaft Videoforschung schalteten im Jahr 2020 72 Prozent der über Vierzehnjährigen den Fernseher ein - täglich. Und ja! Auch ich habe im letzten Jahr viel mehr ferngesehen, weil ich, so wie die meisten Menschen, viel Zeit daheim verbracht habe - beziehungsweise verbringen musste.
Wenn man schon länger kein lineares Fernsehen mehr geschaut, sondern seine Aufmerksamkeit vor allem auf das Internet und auf die Inhalte der öffentlich-rechtlichen Mediatheken gerichtet hat, dann ist es doch immer wieder bemerkenswert wie hartnäckig "klassisch" die Struktur der Sender aufgebaut ist, wie das Fernsehprogramm zwischen dem Morgenmagazin und der 20-Uhr-Tagesschau beharrlich mit "traditionellen" Ideen deutschlandweiter Alltagsrituale einhergeht.
Man sieht es zum Beispiel am seicht-soapigen Nachmittagsprogramm, das eine eher konservative Vorstellung davon hat, wer um sechzehn Uhr daheim sitzt. Nach wie vor gilt auch die Primetime als Primetime, als eine Art abendliche Belohnung: Das spannende, krimi- und quizlastige, kaipflaumige Fernsehprogramm am Ende eines arbeitsreichen Acht-Stunden-Tages, nach dem Abendbrot.
Schulprogramm bei BBC und Co.
Nun sitzen gerade jetzt viele daheim, die keinen derart klassischen Fernseharbeitsalltag haben oder nie hatten: sie sind im Homeoffice, beim Homeschooling und haben komplett verschobene Tagesrhythmen. Aber die Öffentlich-Rechtlichen senden weiterhin so, als sei nicht halb Deutschland seit gut einem Jahr überwiegend zu Hause.
Währenddessen wird in Programmen anderer Länder zum Beispiel Unterricht angeboten; es gibt kroatisches und spanisches Schulfernsehen; die BBC fängt am 11. Januar damit an, um auf die Schließung der Schulen zu reagieren.
Silvesterfernsehen - alles wie immer
Zum Jahreswechsel wurde die Routiniertheit des deutschen Unterhaltungsangebots besonders deutlich. Am 31. Dezember schrieb die Journalistin Anna-Mareike Krause auf Twitter richtigerweise: "Das lineare Fernsehen sendet heute Abend, als wären nur diejenigen zuhause vor dem Fernseher, die in jedem Jahr Silvester zuhause vor dem Fernseher sind."
Tatsächlich - wir hatten die ernüchternde Wahl zwischen Helene Fischer und "Dinner for One".
Schirach auf allen Kanälen
"Aber halt!", könnten Sie berechtigterweise einwenden: Was ist denn mit den gegenwärtig sehr innovativen Projekten, wie beispielsweise Ferdinand von Schirachs TV-Experiment "Feinde", das am Sonntag auf mehreren Kanälen lief? Zugegeben: Die Idee ist grundlegend faszinierend - nur die Umsetzung zeugte wieder von Traditionalität.
In zwei 90-Minütern wurde aus zwei Perspektiven - zum einen die eines Polizisten, zum anderen die eines kettenrauchenden Verteidigers - das rechtsethische Dilemma eines Entführungsfalls verhandelt, der die Zuschauer Schirach-like durch eine schwer zu beantwortende, gedankliche Zwickmühle fesseln sollte.
In der ARD wurde ab 20:15 Uhr zunächst die Perspektive der Exekutive, dann der Blickwinkel des Anwalts gezeigt. Auf den Drittsendern liefen ebenfalls beide Teile, nur andersherum; das heißt man hätte zwischen der ARD und den Drittsendern zappen können, um die Mehrkanal-Perspektivität der Erzählung zu würdigen - weshalb alle Drittsender zeitgleich bespielt wurden.
Die Sehnsucht nach dem Lagerfeuer
Zu Recht kritisierte der Filmkritiker und Autor Wolfgang M. Schmitt auf Twitter:"Wie viel Sendezeit kann man verschwenden? Junge Filmemacher können ihre Werke kaum zeigen, werden häufig in den frühen Morgenstunden versendet oder finden gar nicht statt. Es ist wirklich ein Skandal!"
Was hier aber durch die geballte Omnipräsenz der Programmierung vielleicht sichtbar wurde: die Sehnsucht, dass Fernsehen auch weiterhin ein gesellschaftlich relevantes Lagerfeuer sein möchte, ein Ort, der Debatten hervorbringt und bestenfalls prägt. Die älteste Aufgabe der ersten beiden Sender.