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Festival d'Avignon
Zwischen Shakespeare, Platon und Terrorismus

Das Theaterfestival in Avignon gehört zu den wichtigsten Events der zeitgenössischen Dramatik. Olivier Py präsentiert 2015 mit "Roi Lear" seine erste Shakespeare-Inszenierung, einen prophetischen Vorgriff auf das mörderische 20. Jahrhundert. Die "Republik Platon" hingegen greift die Republik-Debatte in Frankreich mit Bezug auf die jüngsten Anschläge auf.

Von Eberhard Spreng |
    Die eine setzt sich auf ein Motorrad hinter einen unheimlichen Kerl mit gehörntem Helm, die andere tänzelt im weißen Tutu über die noch leere Bühne. Die eine wird dem eitlen alten König, der anlässlich seiner Abdankung sein Reich teilen und seine Töchter verheiraten will, in einer geschmeichelten, höfischen Rede ihre ungeteilte Liebe vorlügen. Die andere klebt sich, statt etwas Nettes zu sagen, einen Tesa-Streifen vor den Mund und schweigt, was den Vater reizt, sie zu verfluchen.
    Anders als im Shakespearschen Original, schweigt Lears jüngste Tochter Cordelia in Olivier Pys Fassung völlig. Gleichzeitig flammt auf der Fassade des Ehrehofes eine Neon-Leuchtschrift auf: "Ton silence est une machine de guerre" – "Dein Schweigen ist eine Kriegsmaschine" steht da und bleibt in den folgenden zweieinhalb Stunden als Motto der Aufführung immer sichtbar.
    Und die beginnt mit derart fröhlicher Theatrei, mit derart vielen hoch gerissenen Armen, rollenden Augen, röhrenden Parolen, dass man befürchtet, die große Tragödie sei dem immer auf griffige Theaterwirksamkeit bedachten Regisseur zu einem leicht dadaistischen Grand Guignol geraten.
    Die übergroße, immerfort mit dem Himmel ringende Gestik des deutlich zu jungen Lear-Darstellers Philippe Girard ist daran nicht unschuldig und auch nicht die sangesfrohen bühnenoffenen Kasperliaden des von Jean-Damien Barbin gespielten Narren.
    En Stück, das verwundert
    Im gesamten ersten Teil dieses Lear reibt man sich verwundert die Augen: Soll das die im Programmheft versprochene Auseinandersetzung mit einer Welt sein, die nach Sprachverlust in die Barbarei abrutscht, in einen unerbittlichen Krieg der verlogenen Ehrgeizlinge?
    Olivier Py, der hier seine erste Shakespeare-Inszenierung vorlegt, sieht das Stück als einen prophetischen Vorgriff auf das mörderische 20. Jahrhundert, das von einem Zweifel an der Sprache als der weltschöpfenden Kraft gekennzeichnet war und einem ungeheuren Siegeszug einer Technologie, die als Kriegmaschine alles zunichte macht. Immer wieder geht der Blick hoch zur Leuchtschrift und immer wieder fragt man sich verwundert, ob denn wirklich nur aus Cordelias Schweigen der ganze Weltuntergang zu erklären ist.
    Mittlerweile ist der Bühnenboden teilweise entfernt, im Morast darunter wälzen sich die Verlierer: Kent, Gloucester, Edgar und Lear, der mit einer Wagenladung von Skeletten überhäuft wird, Toten des Krieges, den sein dummes Verhalten ausgelöst hat.
    Dann taucht die stumme Cordelia wieder auf und umstreift in einem berührenden Bild wie eine Fee den leblosen Körper des Vaters. Die Schergen Edmunds, des miesen Karrieristen, tauchen auf: In Armee-Uniformen, mit Kalaschnikow und schwarz vermummten Gesichtern und schießen in den Nachthimmel. Aus dem flattern sofort rote Bändchen auf die Bühne herunter.
    Da fließt also Blut von oben herab und alles wird klar: Die bösen Menschen, und allen voran die Gotteskrieger, töten Gott und Cordelia war ein Engel, der in einer Welt, in der die Sprache der Wahrheit keine Geltung mehr hat, nichts ausrichten kann. Das Schweigen in der Leuchtschrift meinte letztlich das Schweigen Gottes. Der inszenierende Fundamental-Katholik Olivier Py hat den Lear umgeformt und wieder einmal ein christliches Weihespiel angefertigt.
    Die Macht der Sprache
    Avignon glaubt seit seiner Gründung an die Sprache als dem weltheilenden Mittel. Wenn das Festival jetzt, auch an jedem der kommenden Tage, einen Teil der "Politeía" des antiken Philosophen Platon aufführt, dann will es nach den Erschütterungen Frankreichs durch die Anschläge auf "Charlie Hebdo" und den jüngsten Anschlag bei Lyon den politischen Mechanismus wieder in Gang bringen, der allein stabile Grundlage der Republik sein kann: Die offene philosophische Debatte.
    60 Amateure, zum Teil aus den sozialen Brennpunkten der Festivalstadt und Schauspielschüler aus Cannes lesen die Gespräche aus dem für die politische Philosophie elementaren Werk "Der Staat". Der Philosoph und Dramatiker Alain Badiou hat das neu übersetzt und bearbeitet. Es begann zur Mittagszeit unter sengender Hitze und dem schütteren Schatten von Olivenbäumen und zum Höllenlärm der Zikaden mit dem ersten Buch, der Kontroverse über die Gerechtigkeit, wo es auch um Eigentum und Geld, Schulden und Forderungen, Freunde und Feinde geht.
    Ein Beitrag zu den großen Fragen unserer Zeit
    Kurz gefasst: Sind Gläubiger und Schuldner Freunde und fügt die Rückzahlung dem Schuldner Schaden zu, dann sollte darauf verzichtet werden. Schöner kann Avignon in diesen Tagen nicht Platon zitieren und seinen Beitrag leisten zu den großen aktuellen Fragen.