Musik: Manfroce "Ecuba", 3. Akt, Finale der Oper (Lidia Friedman)
Ecuba, Hekuba auf deutsch, die Gattin des Trojaner-Königs Priamos will Rache. Sie hat alles verloren. Der Grieche Achill tötete im Kampf ihren Sohn Hektor. Dennoch stimmte sie der Heirat ihrer Tochter Polyxena mit Achill zu, aber nur damit Polyxena ihn in der Brautnacht töten könne. Was nicht passiert, denn vorher dringen die Griechen in Troja ein. Priamos kommt um, aber auch Achill, aus Rache wird Polyxena entführt. Nun verflucht Hekuba die Griechen in ihrem finalen Rezitativ, dass diese auf den Meeren umherirren und über Generationen hinweg mit Unglück bestraft werden mögen.
Hekuba ist eine der ersten großen tragischen Frauenfiguren der Oper des 19. Jahrhunderts, die auch skandalöse Aspekte einer Persönlichkeit einführt.
Es fehlt das "lieto fine" der opera seria, hier ist das Ende tragisch und mehr noch, geradezu nihilistisch! Hekubas letztes Rezitativ hat eine immense dramatische Gewalt und eine Destruktivität, die es so vorher noch nicht in der Operngeschichte gegeben hat. Ebenso ungewöhnlich ist, dass sich daran noch ein orchestrales Nachspiel von starker sinfonischer Wucht anschließt.
Lob für kompositorische Qualität von "Ecuba"
"Manfroce war visionär, er konnte sich von den Kompositionsschemata der Zeit befreien und neue Wege zu finden. Er wandte sich von den üblichen reinen ornamentalen Belcanto-Strukturen ab und einem stärkeren dramatischen Gestus zu. Dabei war für ihn die Reformoper im Geiste von Gluck ein wichtiges Vorbild."
Alberto Triola, der künstlerische Leiter des Festivals della Valle d’Itria, ist voll des Lobes für die kompositorische Qualität der kaum bekannten Oper "Ecuba" des 22-jährig verstorbenen Nicola Antonio Manfroce. Sein berühmter Altersgenosse Giaochino Rossini meinte, Manfroce hätte bei einem längeren Leben ein ernster Konkurrent werden können. In der Tat enthält dieses Werk von 1812 auch neben dem ungewöhnlichen Schluss noch weitere visionäre Passagen: das Finale des zweiten Aktes lässt in einem Solisten-Quartett mit Chor bereits Bellini oder Donizetti ahnen.
"Neapel und Europa. Das goldene Zeitalter" hatte sich das Opern-Raritäten-Festival im apulischen Martina Franca in diesem Jahr als Motto gesetzt. Die Zeitspanne umfasst grob das 18. Jahrhundert. Eckpfeiler des Programms waren Manfroces visionäre "Ecuba" und ein Klassiker der neapolitanischen Barock-Oper: Orfeo von Nicola Porpora. Als Facette des komischen Genres stand Domenico Cimarosas "Matrimonio segreto" auf dem Programm. Während bei Manfroce und Cimarosa das Orchester des Teatro Petruzelli aus Bari spielte – musikalisch überzeugender und inspirierter unter dem Dirigenten Michele Spotti bei Cimarosa – hatte man für Porporas "Orfeo" das hervorragende Originalklang-Ensemble "Armonia Atenea" unter George Petrou engagiert.
"Porpora schrieb diese Oper in London für ein unglaubliches Ensemble: es sangen Farinelli, Senesino und die Cuzzoni und andere Stars. Das ganze Werk ist auf die Aufführungsbedingungen zugeschnitten, um einen großen Abend mit fantastischen Sängern und schönen Arien bieten zu können. Die Geschichte interessierte weniger."
"Porpora versteht es unglaublich gut, für die Stimme zu schreiben"
Sagt Alberto Triola, künstlerischer Leiter des Festival della Valle d’Itria. Porporas "Orfeo" von 1736 ist ein Pasticcio, 80 Prozent der Musik stammt von Porpora, andere Arien etwa von Hasse oder Bononcini. Die Geschichte basiert auf einer Variante des Orpheus-Mythos. Neben dem Titelhelden gibt es als Konkurrenten um Eurydike noch Aristaios, einen Sohn des Apoll. Der Grund lag in der Besetzung des Uraufführungs-Ensembles, es sollten Farinelli und Senesino, zwei der berühmtesten Kastraten damals, präsentiert werden, also wurde für Senesino die Rolle des Aristaios geschaffen.
"Porpora versteht es unglaublich gut, für die Stimme zu schreiben. Er war ja auch Gesangslehrer. Er schreibt wesentlich technischer als zum Beispiel Händel. Er legt großen Wert auf die Brillanz, selbst in den expressiven Arien. Dabei fehlt ein wenig die Tiefe der Emotion, die wir von Händel kennen. Daher ist Händel eben die Nr. 1. Und deshalb sind Händels Opern auch für das moderne Publikum so interessant, weil sie immer ein Drama haben."
Der griechische Dirigent George Petrou machte mit seinem sensiblen und inspirierten Musizieren das über dreistündige "Arien-Fest" in Porporas "Orfeo" zu dem eindrücklichsten Ereignis des Festivals. Er und sein Orchester Armonia Atenea kennen den Komponisten gut, gerade boten sie in Salzburg Porporas "Polifemo". Dazu kam ein hervorragendes Sänger-Ensemble, besonders mit den beiden Countertenören Rodrigo Sosa dal Pozzo als Aristaios und Raffaele Pe in der Titelpartie.
Prächtig bunte Barockkostüme
Auch die Ensembles der beiden anderen Produktionen – Manfroces "Ecuba" und Cimarosas "Matrimonio segreto" - sangen auf internationalem Niveau. Besonders bleiben etwa der Tenor Norman Reinhardt als Achill und die Sopranistin Lidia Friedman als Ecuba im Gedächtnis.
Für die Inszenierung hatte man für Manfroce und Cimarosa den 89-jährigen italienischen Altmeister Pier Luigi Pizzi engagiert, dessen extrem zurückhaltende Bewegungsregie leider jegliche Spannung vermissen ließ. Auch Massimo Gasparon setzte bei Porporas "Orfeo" auf sparsame Aktion. Hier konnte man aber deutlich einen Bezug zu barocker Bewegungsgestik sehen, was die Musik sehr gut zur Geltung brachte. Zudem boten die prächtig bunten Barockkostüme einiges für das Auge!
Mit der Auswahl der musikalisch hoch spannenden Werke wurde das Festival della Valle d’Itria dennoch seinem guten Ruf als Opern-Raritäten-Festival in diesem Jahr voll gerecht.