Musik: Performance Joelle Léandre
Zuerst spielte sie nur Kontrabass. Bald jedoch begann Joelle Léandre, wie sie sagt, auch den Mund zu öffnen und bei ihren Improvisationen die Stimme einzusetzen. Seit den 1960er Jahren begleitet sie die Töne und Klänge vom Bass mit Singen, Krächzen, Röcheln und Atemgeräuschen. Joelle Léandre ist eine Pionierin der Stimmperformance, und ihr Auftritt bei der Tagung der Projektgruppe Neue Musik in Bremen erinnerte an die Experimentierfreudigkeit der Avantgarde. Damals wurde der Klangraum für die Stimme geöffnet, und seitdem gehört alles, was man mit ihr machen kann, zum musikalischen Material – im Jazz, in der Popmusik und vor allem in der neuen Musik.
Dieser Klangraum war das Thema der Bremer Tagung. Sie begann mit einer Medizinvorlesung. Gunnar Brandt-Sigurdsson, Sänger und auf neue Musik spezialisiert, beschrieb detailliert die Anatomie der Stimmerzeugung.
"Also ich glaube, dass man von diesen Dingen schon gehört haben sollte, um diesen Hintergrund zu haben, aber natürlich auch um Möglichkeiten kennenzulernen, die man vielleicht noch nicht vermutet hat, oder bestimmte Klänge, die man in der Improvisation herausgefunden hat, hinterher im Nachhinein erklären zu können, zusätzlich auch noch die Angst davor zu verlieren, die Stimme so als etwas Ungreifbares, eine Unsicherheit, ja, den Klang darf ich auf keinen Fall machen, ich schädige meine Stimme, und das dann vielleicht ganz bodenständig begründen zu können und sagen, davon erholt sich die Stimme entweder, oder ich stelle das so ein, dass nichts passiert, dafür ist dieses Wissen auch gut."
Das Instrument des Sängers ist sein Mund – worauf der blumige Titel der Bremer Tagung "Das Maul ist der Text" anspielt. Uwe Rasch, Komponist und Mitorganisator:
"Das ist ein Zitat von Hans-Joachim Hespos, und uns hat es deswegen gefallen, weil suggeriert wird, es geht eigentlich nicht um die Semantik in der Hauptsache, sondern um den Stimmapparat, wir haben ja im Programm so einen Klassiker wie Ligeti, wo es ja auch nicht um Text geht im herkömmlichen Sinn, sondern emotionale Zustände eigentlich über Artikulation nur transportiert werden, wir kennen das auch aus improvisatorischen Zusammenhängen, wo auch mal Text erscheinen kann, aber eigentlich die Arbeit mit der Stimme das Wesentliche ist, und so gibt es in dem Programm mehrere Aspekte, wo eben der Text, wenn überhaupt einer kommt, natürlich eine Rolle spielt aber nicht das Wesentliche ausmacht."
Wenn die Stimme zum Einsatz kommt, geht es in der neuen Musik häufig also um ihre instrumentalen Qualitäten, um die Erzeugung von Tönen, Klängen und Geräuschen. Und wenn Text verwendet wird, dann meist anders als üblich – zu hören bei dem in Bremen uraufgeführten Stück "versprecher" für Countertenor und Elektronik von Uwe Rasch. Der Komponist ging von der Beobachtung aus, dass Texte, wenn man sie verschieden betont und intoniert, ganz verschiedene Bedeutungen annehmen können. Im Vordergrund seines Stück steht daher die Klangcharakteristik der Stimme. Sie wird durch Geräte verfremdet, wie Kehlkopfoperierte sie verwenden.
"Ich bin drauf gekommen, das ein Countertenor ja einen, wenn man sich nicht sehr gut auskennt, damit überrascht, dass er in einer Anführungszeichen falschen Stimmlage singt, nämlich im Falsett, das wird ja dadurch noch mal verändert, dass er mit diesen Sprechhilfen arbeitet für Kehlkopfoperierte, sodass der ganze Klang nur aus dem Mund selbst entsteht, also das auch noch mal eine Stimmveränderung da ist, die einfach nicht den bloßen Text, wie wir ihn kennen, semantisch präsentiert, dass man das Textmaterial nachvollzieht gedanklich, sondern auch da klanglich sich etwas tut."
Musik: Rasch, versprecher für einen Countertenor und Zuspiel
Die Spannbreite der Stimme im zeitgenössischen Komponieren reflektierten zwei Vorträge: die Musikwissenschaftlerin Theda Weber-Lucks sprach über die Entwicklung der experimentellen Stimmtechniken im 20. Jahrhundert. Und der Philosoph Dieter Mersch betonte eine ganz wichtige und einzigartige Eigenschaft der Stimme: Anders als ein Klavier oder eine Geige, die von verschiedenen Musikern gespielt werden können, ist sie individuell - jeder Sänger hat seinen eigenen, ganz persönlichen Stimmklang.
Was in den Vorträgen und Diskussionen umrissen wurde, war in den vier Konzerte der Tagung exemplarisch zu hören. Den Veranstaltern war es gelungen, ganz Verschiedenes auf die Bühne zu bringen. Allein vier Stimmperformerinnen traten auf, neben Joelle Léandre Audrey Chen, Shelley Hirsch und Natalia Pschenitschnikowa. Es erklangen Klassiker wie "Aventures" von György Ligeti, wo mit Stimmen sphärische Klangflächen erzeugt werden. Christoph Ogiermann präsentierte mit "Parole" eine komplexe Collage aus Sprachsamples, und beim Stück "Jarich" von Samir Odeh-Tamimi verschmelzen elektronische Klänge mit drei Frauenstimmen.
Musik: Odeh-Tamimi, Jarich für drei Frauenstimmen und Elektronik
Samir Odeh-Tamimis Werk wurde von Mitgliedern der Neuen Vocalsolisten Stuttgart gesungen, ein international renommiertes Spitzenensemble für zeitgenössische Musik. Weniger bekannt, aber im Gestus sehr agil und äußerst präsent auf der Bühne zeigte sich das Ensemble MAM.manufaktur für aktuelle musik. Unter anderem interpretierte MAM "4 späte Lieder" von Robin Hoffmann.
Die Komposition besteht aus mehreren blockhaft aneinandergereihten Abschnitten höchst unterschiedlicher Charakteristik: krachige Noisemusik, leise, filigrane Töne und Geräusche, und dann eine kitschige Songparodie. Überall steht Text im Vordergrund. Denn für Robin Hoffmann ist das eine wichtige Qualität der Stimme: dass sie nicht nur Klanginstrument ist, sondern auch Text vermitteln kann.
"Meine aktuelle Gefühlslage ist so, dass ich die wirkliche Chance beim Verwenden der Stimme oder beim Agieren der Stimme auf der Bühne darin sehe, dass sie sich konkret in Sprache äußern kann, und natürlich in meiner Performance schon auf eine ironisch gebrochene Weise, weil die Text die ich spreche, leere Hülse sind, Slogans, und dennoch gibt es da Text und Sprache, mit der man spielt, und die man in eine klingende Situation einfügt, und damit hat man einen Reichtum, der wegfällt, wenn man sich auf abstraktes Vokalisieren einlässt."
Musik: Hoffmann, 4 sehr späte Lieder