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Festival in Coronazeiten
Spannende musikalische Begegnungen in Hitzacker

Mit einem Sicherheitskonzept konnten die Sommerlichen Musiktage Hitzacker trotz der Corona-Pandemie stattfinden. Die Jubiläumsausgabe hat nicht nur auf 75 Jahre Festival zurückgeblickt, sondern auch einige spannende Schwerpunkte gesetzt. Herausgekommen sind lauter kleine Festivals innerhalb eines Festivals.

Von Marcus Stäbler |
    Kuss Quartett spielt bei den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker
    Jährlich finden im Niedersächsischen Hitzacker ein Festival für Kammermusik statt: die Sommerlichen Musiktage Hitzacker (Musiktage Hitzacker / Heine )
    Samstag, 3. August, im Konzertsaal Verdo in Hitzacker. Das Kuss Quartett spielt das Presto aus Beethovens spätem B-Dur-Streichquartett. 16 Takte lang klingt alles normal. Doch dann ein kurzer Schockmoment. Der Schlagzeuger Johannes Fischer unterbricht das Original mit einem perkussiven, perfekt getimten Überfall. Eine brillante Pointe, entstanden aus der gemeinsamen Improvisation von Fischer mit dem Kuss Quartett, bei der sich die Musiker gefragt haben: "Was passiert, wenn ich mal dazwischen gehe? So wie es ja der Beethoven sich selber gegenüber auch tut?"
    Wie kleine Stromschläge zucken die kurzen Breaks dazwischen. In einem Konzert, das Teile aus Beethovens Streichquartetten mit zeitgenössischer Percussionmusik konfrontiert – und nicht bloß nebeneinanderstellt, sondern mit der Zeit immer enger verzahnt. Mit dieser ungewöhnlichen Begegnung führt das Konzert am Eröffnungsabend gleich zur zentralen Programmidee des Festivals und seines Intendanten Oliver Wille: "Oben drüber über den Musiktagen steht 'Tradition trifft Moderne'."
    Oliver Wille, Intendant, steht bei einer Pressekonferenz im Landesmuseum zu den Sommerlichen Musiktage Hitzacker
    Oliver Wille ist der Intendant der Sommerlichen Musiktage Hitzacker (picture alliance/dpa - Julian Stratenschulte)
    Oliver Wille füllt diese weit gefasste thematische Klammer mit einem Konzept, das von der gewohnten Konzertdramaturgie abweicht und dem ganz eigenen Profil von Hitzacker entspricht.
    Grenzen ausreizen und neue Wege gehen
    Virtuose Blockflötensounds aus Barock und Gegenwart, präsentiert von Maximilian Volbers und Elisabeth Wirth, umrahmen Lesungen des Schauspielers Udo Samel: einer von vielen hitzackertypischen Höhepunkten – ebenso wie die gedanklich verwandten und zugleich vollkommen unterschiedlichen Soloauftritte der Geigerinnen Isabelle Faust und Patricia Kopatchinskaja.
    Kopatschinskaja verwebt Werke von Luciano Berio, Salvatore Sciarrino und sich selbst mit Sätzen aus den Geigenpartiten von Johann Sebastian Bach – und demonstriert dabei einmal mehr ihren Mut, Grenzen auszureizen und neue Wege zu gehen. Auch und gerade in ihren Bach-Interpretationen, die oft rauer, verletzlicher und spontaner klingen als wir es gewohnt sind.
    Kopatchinskaja: "Ich glaube, mal soll die Fantasie benutzen, überall, wo es geht. Es gibt keine einzige Phrase, die einfach nur Noten ist. Jede Phrase meint etwas. Dafür muss man eben die Sinne offen haben."
    Drei Tage vor Kopatchinskaja umrahmt Isabelle Faust eine Bach-Hommage von György Kurtág mit zwei Solo-Sonaten von Bach – und rückt die Klangwelten der beiden Komponisten mit ihrem wunderbar transparenten und verinnerlichten Spiel erstaunlich nahe aneinander.
    Faust: "Ich habe sehr oft das Feedback bekommen, dass die barocke Musik plötzlich moderner klingt - und das Moderne aber auch deutlich vom Alten inspiriert."
    Der Kurtág-Schwerpunkt am vergangenen Montag ist ein Beispiel dafür, wie Oliver Wille bei den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker 2020 lauter kleine Einzelfestivals innerhalb des Festivals inszeniert.
    Helmut Lachenmann beim Festival
    Ein weiteres rückte Helmut Lachenmann ins Zentrum. Auch mit bald 85 Jahren hat sich der Komponist seine Neugier auf das Unerhörte bewahrt - ebenso wie seine leidenschaftliche Abneigung gegen Routine und Bequemlichkeit. Das war in seinen Werken, aber auch in zwei Podiumsgesprächen deutlich zu spüren. Ein Komponist dürfe sich nie im allzu Vertrauten wohl fühlen, betonte Lachenmann in einer Hörerakademie.
    Lachenmann: "Ein Paradies ist ein Gefängnis. Sie müssen raus aus dem Paradies! Ein Künstler, der nicht den verdorbenen Apfel frisst, ist verloren."
    Mit der Einladung von Helmut Lachenmann entsprach Oliver Wille dem Wunsch vieler Hörerinnen und Hörer, die Lachenmanns früheren Besuch bei den Sommerlichen Musiktagen im Jahr 2007 besonders geschätzt hatten. Auch das gehörte zur Jubiläumsausgabe des Festivals: der Rückblick auf die Tradition, für den der aktuelle Intendant vier seiner Vorgänger eingeladen hatte. Der Cellist Wolfgang Boettcher, von 1986 bis 1992 künstlerischer Leiter in Hitzacker und davor schon lange Stammgast, erinnerte sich an die besonderen klimatischen Bedingungen früherer Jahre.
    Boettcher: "Du spielst in Schwitzacker, hieß es damals."
    Verdichtung der Programme wegen der Corona-Pandemie
    Hochsommerlich heiß war es auch in diesem Jahr, aber der Konzertsaal im Verdo, dem ehemaligen Kurhaus von Hitzacker, ist gut klimatisiert. Die Belüftung wurde eigens an die aktuellen Corona-Bedingungen angepasst. Eine von vielen Voraussetzungen, die das Festival erfüllen musste, damit es überhaupt stattfinden konnte.
    Oliver Wille hat mit seinem Team ein umfangreiches Sicherheitskonzept erstellt, um die Infektionsgefahr möglichst gering zu halten. Dazu gehört neben den üblichen Abstands- und Hygieneregeln auch die Verdichtung auf einstündige Programme, die dafür zweimal hintereinander gespielt werden und eine Reduktion des Publikums.
    Coronavirus
    Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
    Statt der sonst üblichen 680 durften jetzt nur jeweils 150 Besucher in den Saal, die um eine ebenerdige Bühne etwa in der Mitte herum saßen. "Nähe durch Abstand" hat Oliver Wille das genannt – und tatsächlich eine besondere Atmosphäre erzeugt. Die war auch bei den eindringlichen Schumann-Interpretationen der Geigerin und ehemaligen Intendantin Carolin Widmann mit dem Pianisten Alexander Lonquich zu spüren.
    Widmann: "Ich habe das Gefühl, das ist integrativer und intimer und für alle eigentlich eine schönere Aufstellung."
    Die außergewöhnliche Intensität ergab sich jedoch nicht allein durch die neue Sitzordnung, sondern vor allem durch die aktuelle Situation. Nach der mehrmonatigen Zwangspause erleben viele Künstlerinnen und Künstler, aber auch das Publikum die Begegnung im Konzert als etwas besonders Kostbares, wie Carolin Widmann bestätigt.
    Widmann: "Ich glaube, dass für mich viel wichtiger geworden ist, eine Geschichte zu erzählen. Und wenn ich eine Geschichte erzähle und keiner ist da zum Zuhören, dann ist das furchtbar. Ich brauch keine Bestätigung, kein Lob, darum geht es nicht, aber ein Gegenüber zu haben, dem ich was erzähle. Deshalb habe ich heute, kurz bevor ich auf die Bühne gegangen bin gedacht: jetzt darf ich es endlich wieder erzählen."