"De el Mashreq a el Maghreb", sagt Mia Habis.
Zusammen mit ihrem Mann, dem Choreografen Omar Rajeh hat die Tänzerin das so auf Arabisch klingende Festival kuratiert. In ihrer Heimatstadt Beirut leiten die beiden libanesischen Künstler ein Zentrum für darstellende Künste und sind in der arabischen Musikwelt eng vernetzt.
"Vor langer Zeit beschrieb das 'von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang' die gesamte arabische Welt. Wir wollen unsere Vergangenheit nicht verleugnen. Wir kommen aus sehr unterschiedlichen Ländern, die einen großen kulturellen Reichtum besitzen und sehr unterschiedliche künstlerische Sprachen zulassen. Gleichzeitig hat das, was wir hier zeigen, nichts mit traditioneller oder folkloristischer Kunst zu tun. Wir haben Künstler eingeladen, die nicht nur im Tanz, sondern auch in der Fotografie, Malerei, performativen Kunst im Moment die Kunst-Szene ihrer Länder verändern."
Viele Künstler aus dem Libanon
Aus Ägypten, Algerien, dem Iran, Tunesien und Palästina kommen die Künstler. Die syrische Sängerin Lena Chamamyan hat zum Festivalauftakt Gäste aus ganz Deutschland angelockt, denn in ihrer Heimat ist sie mit ihrem utopischen Pop ein Star. Die meisten Künstler kommen wie das Kuratorenteam aus dem Libanon. Sie thematisieren in ihren Arbeiten die Umbrüche und Tabus in ihrer Heimat – und bringen ihr Publikum dazu, sich ebenfalls damit zu beschäftigen. Das findet Omar Rajeh essentiell.
"So machen wir das auch bei unseren Veranstaltungen in Beirut; wir behandeln die Zuschauer als ein kluges Publikum, das sich auskennt. Damit schafft man die Ausgangsbasis für einen Austausch. Oder ist das ein Vorurteil? Als wir hier ankamen, war es ein Montag und wir bekamen die Demonstrationen in der Innenstadt mit. ‚Aha‘, dachte ich, ‚diesen Gedanken begegnen wir hier also auch.‘ Für mich hat das aber bestätigt, wie wichtig es ist, unsere Arbeit zu präsentieren, mit allen Werten, die sie hat. Künstlerische Arbeit gewinnt zuallererst ihre Kraft daraus, dass sie eine starke Aussage hat, ein künstlerisches Statement. Und dann entwickelt sie sich, und das ist mir persönlich sehr wichtig - nämlich dadurch, dass man sich auf ganz ehrliche Weise mit ihr auseinandersetzt. Dadurch erst zeigt sich, dass die künstlerische Arbeit etwas sehr Intimes ist, sie ist wahrhaftig. Durch diesen persönlichen Bezug beleuchtet sie den kulturellen Kontext der Kunst, ihre soziale Anknüpfung und ihre Aktualität und Dringlichkeit."
Performance "Time takes the Time Time takes"
Der Wahrhaftigkeitsanspruch des Festivals trifft ins Schwarze, die Aktualität sowieso. Alle Konzerte und Tanzperformances sind nahezu ausverkauft. Der libanesische Tänzer und Choreograf Guy Nader und seine spanische Partnerin Maria Campos zeigen ihre Performance "Time takes the Time Time takes", "Zeit braucht die Zeit, die Zeit braucht". Fünf Tänzerinnen und Tänzer werden zu einer Maschine. Die pendelnde Kraftübertragung der Körper hebelt und dreht die Personen selbst und gleichzeitig ihre Partner mühelos und an der Grenze zur Akrobatik, aber hochgradig ästhetisch. Wie Kraftakt und Tanz berühren sich hier Arbeit und Affekt, erklärt Maria Campos.
"Der Gedanke, einander zu unterstützen, aber auch die Idee des Risikos steckt in allen unseren Arbeiten. Wie Du um jeden Preis überleben kannst, denn das ist auch eine Seite von Partnerarbeit. Es geht nicht darum so zu tun als ob, sondern etwas ganz real zu durchleben."
Guy Nader war noch ein Kind, als in seiner Heimat Libanon Krieg herrschte. Diese Erfahrung trägt er für immer in sich.
"Nach einiger Zeit beginnt man zu analysieren, sich bewusst zu werden, warum man sich so oder so bewegt. Das hängt mit meinem Körper zusammen, der ja seine ganz eigene Geschichte gespeichert hat. Sicher musste er mehr Traumata erleiden als andere oder war einige Male gezwungen, zu überleben. Ich habe nicht ständig den Krieg vor Augen oder Gewalt, aber mein Ausgangspunkt ist eine besondere Wachsamkeit, ich bin immer auf dem Sprung. 'Überleben' kann man auch alltäglich verstehen, indem man immer wieder aufsteht, die gleichen Dinge tut. Das ist eine sehr positive Sicht von Überleben, die Freude am Springen, Drehen, jemanden auffangen, sich an jemanden anlehnen und den Widerstand seines Körpers spüren. Die Freude an der physischen Berührung. Alle diese Bezüge sind bei mir vorhanden und tauchen in meinen Arbeiten immer wieder auf."
Das Festival hat Fragen beantwortet und neue aufgeworfen
Innerhalb zwei Wochen hat das Festival das Fenster in die Welt Kunstschaffender aus arabischen Ländern weit aufgestoßen. Es hat Fragen beantwortet und neue aufgeworfen, sagt die Kuratorin Mia Habis:
"Was uns in unserem Festivalprogramm besonders wichtig ist, sind das Zusammenkommen und der Austausch. Es ist nicht die Art von Festival, bei dem die Leute kommen, auftreten und wieder abreisen. Wir wollen, dass die Leute sich nach den Shows treffen und diskutieren. Dass Hellerau solch einen Austausch beim Festival anbieten kann, ist für uns sehr aufregend. Es zeigt große Offenheit und erzeugt ein Bewusstsein über den Reichtum von Verschiedenheit. Diese Art von Begegnung finde ich ungeheuer wertvoll."
Und deshalb widmet sich der Festivalabschluss ganz diesem Austausch. Das Festivalmotto ist nun umgekehrt, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang dauert die lange Nacht des Tanzes, des Feierns und des Beieinandersitzens. Auf großen schwarzen Bodenkissen haben alle Platz. Das Publikum in Hellerau erzählt sich gegenseitig seine Träume, in arabischer Gastfreundschaft gibt es an einer langen Tafel Falafel und später eine Teezeremonie, es wird zusammen gelacht und gesungen.
"Kunst kann ein wahnsinniger Motor sein"
Pegida und Fremdenfeindlichkeit sind in dieser langen arabischen Nacht weit weg. Carmen Mehnert ist im europäischen Kulturzentrum Hellerau Programmleiterin für darstellende Kunst:
"Dieses Festival zu machen, genauso wie wir letztes Jahr Brasilien hatten, davor hatten wir Afrika als Schwerpunkt, ist natürlich immer wieder die Behauptung, dass das, was in der Kunst möglich ist, auch in der normalen Realität möglich sein sollte. Wir haben uns schon sehr früh positioniert, weil wir gesagt haben, dass wir weniger gegen Sachen sein wollen als für Sachen stehen. Denn dieses Dagegen ist auch sehr zermürbend. Das merkt man auch hier in der Stadtgesellschaft, nach zwei Jahren Pegida haben es die Leute auch satt. Man kann es nicht zu seiner Agenda machen, sich jeden Montag verpflichten zu einer Gegendemonstration. Ich glaube, dass wir immer wieder dafür stehen: Kunst kann ein wahnsinniger Motor sein, um diese Energie wieder reinzubringen. Hoffnungsträger zu sein, das ist doch ein schöner Gedanke!"