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Festival "Spieltriebe 6" in Osnabrück
Die zivilisatorische Kraft des Theaters

In Osnabrück ist das Festival "Spieltriebe6" für junge Theatermacher und Autoren zu Ende gegangen. Eindrücklich zeigten die Inszenierungen die zivilisatorische Kraft des Theaters, die in der Belebung von Leerstand genauso liegen kann wie in der Nutzung syrischer Theaterpotenziale.

Von Dorothea Marcus |
    Ein Mann mit schwarzer Dschihad-Flagge steht vor der Tür und zeigt den Weg nach oben - in den ehemals glitzernden Konsumtempel, die leer stehende Filiale des Textilriesen C&A. Hier erstrecken sich auf rund 6.000 Quadratmeter fleckige Teppiche mit großen Mustern, leere Kleidergestelle unter bedrückend tief gelegter Decke. Ausgerechnet an diesem hohlsten Ort des Kapitalismus, dem architektonischen Desaster der funktionslosen Filiale, spürt Regisseur Pascal Wieandt in der Lecture Performance "Dschihad-Express" den Motiven jugendlicher IS-Kämpfer nach. Es beginnt ganz harmlos - drei Schauspieler sprechen das legendäre Interview des SZ-Magazins mit einem deutschen Dschihadisten nach. Doch immer intensiver versuchen sie, die Anziehungskraft der Ideologie zu umkreisen. Während auf Bildschirmen die hohlen Werbebotschaften des Westens flackern, kann man sie auf einmal erahnen.
    "Ihr verbringt euer Leben in Leichtfertigkeit. In Verschwendung. Aber der Islam verheißt die rettende Gnade Gottes..."
    Zum Schluss werden die Zuschauer in kleinen Gruppen durch die endlosen, muffigen Hallen getrieben - bis auf einmal im Schockmoment das Warenwelt-Neonlicht ausgeht und echte IS-Gewaltvideos auf die Wände projiziert werden, die unmerklich in von den Schauspielern gespielte Filme übergehen. Hautnah und klug wird hier vorgeführt, wie sinnentleert einem das Leben der auf Geld und Status fixierten Gesellschaft vorkommen kann - und wie straff und sinnvoll geführt die vermeintlich göttliche Alternative IS erscheinen mag.
    "Die Arme paddeln leblos. Gesichter erfroren. Beziehungen eingerostet. Das Lachen knochig, bitter. Morsch, das Holz. Keine Menschen mehr sichtbar vom Bühnenrand aus, brüllen sie dann. In Kleiderfetzen voll Wasser. Ihr Antlitz seit Tagen über Bord. Seit Wochen auf der Flucht. Keine Hoffnung mehr. Und trotzdem Stimmen..."
    Es ist für das Festival nur folgerichtig, dass auch der Blick auf die Konsequenzen der kapitalistischen und religiösen Verirrungen gerichtet wird. Zentrum der fünf Festivalrouten durch die Stadt, im Großen Haus des Theaters, ist daher die hervorragende Uraufführung "paradies fluten" von Thomas Köck, der 2013 den ersten Osnabrücker Dramatikerpreis gewann. Zwischen weißen, riesigen Winkelelementen rollen zwei Männer mit Sauerstoffmasken auf die Bühne, wie die letzten Überlebenden nach der finalen Katastrophe. Immer mehr Tänzer und Schauspieler kommen und bewegen sich zur poetisch-musikalisch komponierten Textfläche, die an Elfriede Jelinek erinnert und an große Inszenierungen von Falk Richter.
    Syrischer Flüchtling - und Regisseur
    Wie in einer "verirrten Sinfonie", so der Untertitel, kehren manche Motive immer wieder, unaufgeregt und eindringlich lässt sie Regisseur Mauro de Candia, Leiter des Osnabrücker Tanzensembles, emotional illustrieren: Ein Deutscher in Manaus, der eine Oper bauen will - und in postkoloniale Zweifel gerät. Eine Familie in normaler Alltagsnot, die mit den Auswüchsen des latent rassistischen Kapitalismus leben muss - und dessen Konsequenz, eben Flüchtlingsdramen. Ganz authentisch wird in der nächsten Station, auch in einem leeren Ladenlokal, eines davon thematisiert. Der syrische Regisseur und Autor Anis Hamdoun, seit zwei Jahren Flüchtling in Osnabrück, lässt in seinem Stück "The Trip" seine Geschichte von Schauspielern erzählen.
    "Ich bin nicht mehr dieselbe Person. In der Stadt der Sonne, da war ich jemand. Ich war wichtig. Ich verstehe einfach nicht, was passiert ist auf dem Weg über das Meer. Warum musste ich wiedergeboren werden? Ist mein Hochschulabschluss plötzlich nicht mehr genug? Was soll ich tun? Ich. Will. Neu. Anfangen."
    Anis Hamdoun setzt in "The Trip" seinen toten Freunden aus Homs, der Stadt der Sonne, ein Denkmal. Zu Muezzin-Klängen wird die Geschichte einer Gruppe von Demonstranten gegen das Assad-Regime erzählt - ein einziger, das Alter Ego von Hamdoun, hat überlebt. Einer umkreist wie ein Geist die Stuhlreihen, ein anderer spricht seine Geschichte auf Arabisch vom Video ein, andere verstecken sich in Stofftunneln - sie sind zu Geistern geworden. Jedes Pathos wird vermieden und dennoch melancholisch dem Verlust gedacht. "Das Unmögliche geschieht", frei nach dem Festivalmotto, tatsächlich an diesem von Zuschauern überrannte Wochenende in Osnabrück: Eindrücklich zeigt das Theater seine zivilisatorische Kraft, die in der Belebung von Leerstand genauso liegen kann wie in der Nutzung syrischer Theaterpotenziale.