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Festival Territoriya 2020 in Moskau
Russische Musik 2.0

Maskenpflicht, Abstand und Gratis-Sekt: In Moskau findet trotz Corona zum 15. Mal das Territoriya-Festival statt. Neu dabei ist der Komponistenwettbewerb „Russische Musik 2.0“, mit dem zeitgenössische Musik in Russland gefördert werden soll. Denn die hat es in dem Land gerade recht schwer.

Von Anastassia Boutsko |
    Musiker mit ihren Instrumenten vor dunklem Hintergrund beim Festival Territoriya 2020 in Moskau.
    Jedes Jahr im Herbst versammelt das Festival so ziemlich alle innovativen Künstler aus ganz Russland. (Deutschlandradio / Alexandra Muravyeva)
    Moskau im Oktober: Trotz steigenden Corona-Zahlen pulsiert das Kulturleben. Die Philharmonie lädt jeden Abend in den zu einem Drittel besetzten Saal ein, große und kleine Orchester melden sich nach einem halben Jahr Kurzarbeit mit kleineren und größeren Programmen. Im Bolschoi Theater lädt Placido Domingo zu einem bombastisch besetzten Gala-Konzert ein, mit von der Partie: Anna Netrebko samt Tenor-Ehemann Jusif Eyvazov und internationale Stars wie Piotr Beczała oder Michael Volle. Da kann man sich nur fragen, wie all das angesichts des nichtvorhandenen Luftverkehrs zwischen Russland und Westeuropa und den gesetzlichen Quarantänen möglich ist. Aber sei es drum. Man hat in Moskau schon wieder die Qual der Wahl: Zum Beispiel am 16. Oktober. Am Abend der Verleihung des renommierten Opernpreises "Casta Diva" findet auch die Eröffnung des Festivals für zeitgenössische Kunst "Territoriya" statt.
    Das politische Klima wurde rauer, das Festival blieb standhaft
    Seit 15 Jahren ist "Territoriya" (das Territorium), 2006 von einer Gruppe russischer Künstler wie Regisseur Kirill Serebrennikov und Dirigent Teodor Currentzis gegründet, die Plattform für alles Innovative in der Kulturwelt des Landes. Als einziges russisches Festival mit internationalem Renommee verstand sich Territoriya auch als eine Art "Schule des gegenseitigen Verstehens" für Künstler und Publikum. Jeden Herbst versammelt das Festival in Moskau so ziemlich alle innovativen Künstler und ihre Konzepte aus ganz Russland.
    Musiker mit Instrumenten vor einem dunklen Hintergrund beim Festival Territoriya in Moskau.
    Neobarock bis Sound-Performance: das Ziel des Festivals ist es, zeitgenössische Musik zu präsentieren (Deutschlandradio / Alexandra Muravyeva)
    Das politische Klima wurde immer rauer, das Festival blieb standhaft: Sogar die Strafverfolgung Serebrennikovs, dem absurde Vorwürfe der Veruntreuung öffentlicher Gelder gemacht wurden, führte nicht zum Abbruch der Tradition. Auch Corona hat "Territoriya" nicht ganz in die Knie gezwungen. Dennoch geht es dieses Jahr naturgemäß bescheidener zu: eine Handvoll Premieren sind bis Ende November zu erwarten, vieles, wie das Bildungsprogramm, findet nur online statt.
    Umso beeindruckender die Offline-Veranstaltung zur Eröffnung. Sie findet im nach Vsevolod Meyerhold genannten Kulturzentrum statt, mit Maskenpflicht, sozialer Distanz und Gratis-Sekt. Das Festival wird mit einem Konzert der Gewinner des neu gegründeten Komponistenwettbewerbes "Russische Musik 2.0" eröffnet.
    "Hinter dem anspruchsvollen Namen steckt ein ambitioniertes Projekt. Erklärtes Ziel: zeitgenössische Musik aus Russland zu konsolidieren, zu fördern und dem nationalen und internationalen Publikum als kreativen Pool von Ideen und Formen von Neobarock bis Sound-Performance zu präsentieren."
    Boom zeitgenössischer Musik – vor zehn Jahren
    Die Idee entstand vor knapp zwei Jahren im Territoriya-Umfeld. Eine repräsentative Jury wurde berufen: neben einigen russischen Musikkritikern, Musikern und Journalisten gehören etwa die Komponistin und Harvard-Professorin Chaya Czernowin oder ihr Kollege Yannis Kyriakides vom Königlichen Konservatorium Den Haag dazu. Jeder schlug vier Namen vor.
    Aus der Longlist von 23 Künstlern wurde per Abstimmung eine Auswahl getroffen. Sieben Männer und eine Frau wurden dann mitten in dem Corona-Lockdown mit Kompositionen in einer freien Form und einer Länge zwischen 5 und 15 Minuten beauftragt. Auch Sergej Nevsky, der in Berlin lebende russische Komponist und Kurator, gehörte zur Jury:
    "Wir haben gesagt, wir zeigen Musik, die nicht eine bestimmte Richtung, eine bestimmte Ästhetik vertritt, sondern das Gesicht der russischen Musik zeigt auf einem sehr hohen Identitätsgrad, die eine sehr hohe Individualität hat. Und ich bin extrem stolz auf das, was daraus geworden ist."
    Dmitri Burtsev und die sieben weiteren Preisträger meist um die 30. Eine Generation, die vor zehn Jahren für einen regelrechten Boom zeitgenössischer Musik in Russland sorgte. International ausgerichtet, frei in Sprache und Stilistik, unkonventionell denkend. Einzig die russische Expressivität ist wohl der gemeinsame Nenner.
    Eine Stiftung ist die Rettung
    Dann gab es einen starken Rechtsruck in der russischen Kulturpolitik und die Wirtschaftskrise. Und dann kam Corona. Als Komponistin dennoch zu überleben, sei fast unmöglich, bestätigt Daria Zvezdina:
    "Es ist schon sehr hart. Dieses Projekt war eine absolute Rettung – sowohl finanziell, als auch als Möglichkeit, wieder kreativ zu sein und mit anderen Menschen zu interagieren."
    "Angel" – Engel – heißt Zvezdinas minimalistisch-ätherische Komposition. Das soll keine Andeutung sein, aber hinter dem für viele Komponisten rettenden Projekt steckt eine private Stiftung – die Dmitri Aksenov Family Foundation.
    Dmitri Aksenov ist ein sehr reicher Mann: geboren 1966 in Novosibirsk, machte er sein beeindruckendes Vermögen mit Development und geschicktem Investment. Der Öffentlichkeit ist der gutaussehende Geschäftsmann aber vor allem durch seine Hobbys als Kunstliebhaber bekannt: Aksenov unterstützte Projekte von Teodor Currentzis, gründete die Gesellschaft russischer Freunde der Salzburger Festspiele und kaufte 2016 die Wiener Kunstmesse "Vienacontemporary". Der zwischen Wien und Moskau lebende Unternehmer sieht sein Engagement für die neue Musik pragmatisch:
    "Ich bin studierter Ingenieur und suche immer nach Zusammenhängen: Ursachen und Folgen. So sehe ich, dass wir uns an einem interessanten Punkt in der Geschichte der Menschheit befinden: Die technologische Evolution führt dazu, dass wir immer mehr freie Zeit haben. Wohin mit dem Überschuss dieser Freizeit? Die Antwort der Eliten steht längst fest: Man sucht nach Inhalten, die eben von der Kultur produziert werden."
    Insbesondere neue Musik. Dabei glaubt Dmitri Aksenov an die Vitalität und Durchsetzungskraft russischer Kunst – auch das aus eigener Erfahrung:
    "Wir sind ja eine Nation der Innovatoren, allein schon durch die Unberechenbarkeit der Situation, in der wir seit Jahrzehnten leben, von der internationalen Lage bis zu den nationalen Steuergesetzen. Jeden Morgen steht man auf und erfindet sein Leben neu. Das macht auch unsere Kultur so stark: das ist ein Phänomen von großer Kraft, das zwangsläufig immer mehr wahrgenommen und geschätzt wird."