Aber so war's ja gerade nicht, als Salvador Allende, Chiles gewählter Präsident, die letzte Rede hielt, bevor das Militär (mit US-amerikanischer Unterstützung) putschte gegen den obersten Repräsentanten der linken Koalition, die sich "Unidad Popular" nannte ... 42 Jahre ist das inzwischen her. Keine Fernsehkamera war damals auf ihn gerichtet, sondern nur das Radio-Mikrophon stand ihm noch zur Verfügung.
Die Worte, mit den Allendes letzte Rede beginnt, sind allerdings heute und auf der Bühne dieselben wie damals: "Es ist sicherlich das letzte Mal, dass ich mich an Euch wende", an die verbliebenen Anhänger der Volksfront-Regierung nämlich. Aber augenscheinlich beschäftigt sich hier und jetzt, in der Vergangenheitsbeschwörung der chilenischen Gruppe "La Re-sentida", eine hysterische Menge ziemlich durchgeknallt-televisionärer Medien-Menschen, angeblich Allendes Kabinett, mit der Einrichtung der berühmten Durchhalte-Ansprache; sie rücken neue Hintergründe ins Bild, unterlegen der Rede immer neue Musik-Schnipsel, stellen dem Redner sogar künstliche Kinder zur Seite, Pappkameraden, weil echte Knirpse nicht mehr zu haben sind. Ein Medien-Spektakel, ganz wie von heute; und Laptops stehen auf den Schreibtischen der Damen und Herren Minister, die den Präsidenten für den Auftritt drillen.
Der Allende-Darsteller ist längst müde und will schlafen
Und die zentrale Frage dieser Theater-Fantasie ist schon in den ersten Minuten unübersehbar: Soll das Stück womöglich tatsächlich den 11. September 1973 herbei imaginieren, als die "Moneda", der Präsidentenpalast in Santiago de Chile, mit Bomben belegt und gestürmt wurde vom Militär - bis Allende schließlich hilflos vor Maschinengewehren saß im eigenen Büro und sich das Leben nahm? Oder ist "La Imaginacion del Futuro" eine Art von zeitgenössischem "Re-Enactment"?
Diese Nuss bleibt zu knacken in der "Fantasie für morgen"; das wird nicht entschieden. Der Allende-Darsteller ist längst müde und will schlafen; aber während er das tut, verwandelt sich das Spiel tatsächlich in pure Gegenwart - mit der Elendsfabel eines Straßenjungen, für den das Ensemble die Hilfe durch das Publikum herbei beschwören will:
Chor:
"Ich, das Publikum, verpflichte mich vor Dir, Roberto, Dir zu helfen, um so die Ungleichheit zu verringern, die in der Welt herrscht."
Mit Klingelbeuteln, eher Klingel-Säcken zieht das Ensemble dann durch den Saal - und wer da nicht weich wird, kann sich plötzlich einer kämpferischen Nackten gegenüber sehen, die für ein bisschen Mitgefühl (genauer: für 20 Euro) alles, wirklich alles machen würde.
Immer wieder wird so die fatale Verführbarkeit im Medienzeitalter heute zum Zentrum der Geschichte - Allendes letztes Gefecht verkümmert da zusehends zur verblasenen Ausstattungs-Operette, zur verkorkst-verkoksten Farce.
Dann aber führt Allende am roten Telefon doch noch ein Gespräch mit dem Kollegen Nixon in Washington:
Ob sein chilenischer Traum denn Amerika wirklich gefährde - die Frage ist rhetorisch; und vom gepflegten Ton wechselt auch Allende bald ins Hysterische, das Gespräch wird zum verzweifelten Geschrei. Und gleich darauf werden gar die letzten Schritte des Präsidenten im Bombenhagel durch die verrauchten Gänge der "Moneda" beschworen - da erschauert auch 42 Jahre danach das Publikum vor dieser Ungeheuerlichkeit, dieser Barbarei.
Ob's aber darum wirklich ging, um diese Erinnerung? Oder nicht vielleicht doch eher um deren Unmöglichkeit heute - das chilenische Ensemble lärmt zwar energisch und expressiv, aber wohin diese Fantasie einer fiktiv-authentischen Recherche führen soll, ob das gar neues politisches Theater ist, weiß beim Festivalauftakt in Hannover niemand zu sagen.