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Festliches Stampfen

Unter dem Titel "Istanpitta" erschien bei opus 111 in Coproduktion mit dem französischen Label naïve eine CD, auf der Pierre Hamon, Carlo Rizzo und das Ensemble "Alla francesca" Werke des 14. Jahrhunderts vorstellen, die unter dem Motto "Festliche Musik am Hof der Visconti" stehen.

    * Musikbeispiel: Anonymus (14. Jh.) - Saltarello

    Der Titel der vorliegenden CD "Istanpitta" steht hier sinnbildlich für die Instrumental-Musik des Mittelalters. Istanpitta war ein beliebter Tanz im höfischen Europa des 12. - 14. Jahrhunderts, bezeichnet ebenso eine rhythmisch originelle Tanzmelodie wie auch eine spezifische Gattung der Dichtung. Der Begriff ist von dem germanischen Wort "stampjan", "stampfen" abgeleitet. Und so wurden die frühen Tänze wahrscheinlich von Fußstampfen und Händeklatschen begleitet. Doch es gibt auch die Definition des französischen Theoretikers Johannes de Grocheo, der in seinem um 1300 erschienenen Traktat "De musica" mit "estampie", so die französische Bezeichnung, ein textloses , melodisch schwieriges Tonstück beschreibt, das sich aus mehreren "puncta" (Abschnitten) zusammensetzt. Dabei erfordere die Komplexität der Musik eine große Konzentration sowohl bei den Spielern wie auch bei den Zuhörern.

    Die Schwierigkeiten bei der Aufführung einer Estampie sollten den Sinn der Jünglinge und Mädchen von schlechten Gedanken abhalten, ähnlich der kürzeren "Ductia", einem schnell auf- und absteigenden Gesang, der die Herzen gegen Eitelkeit und Leidenschaft schützen soll.

    Es gibt nur zwei Manuskriptsammlungen, in denen sich solche Musik erhalten hat, und sie sind zugleich die einzigen Quellen für die Musik des Mittelalters, die ansonsten nur mündlich tradiert ist. Neben dem "Chansonnier du Roy", eine französische Anthologie aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, kommt dabei dem Manuskript 29987 aus der British Library besondere Bedeutung zu.

    Diese Sammlung war in den letzten Jahrzehnten eine unerschöpfliche Quelle für Musiker und stellte die Musikwissenschaftler zugleich vor eine Menge Fragen. Die in dem Londoner Manuskript enthaltenen "Istanpitte" und "Saltarelli" sind, bis auf ein paar vereinzelt verstreute Stücke, die einzigen erhaltenen Instrumentalwerke des italienischen Trecento. Der Faenza Kodex zum Beispiel, die große Sammlung von vokalen Ars Nova Kompositionen in Orgel-Tabulaturen, stammt aus dem frühen 15. Jahrhundert.

    Pierre Hamon, Carlo Rizzo und das Ensemble "Alla francesca" haben aus diesem Londoner Manuskript ganz unterschiedliche Stücke ausgewählt und in einer sehr lebendigen Weise interpretiert, in der eine große Vertrautheit mit dieser Musik und auch eine Experimentierfreudigkeit herauszuhören ist.
    Dem folgenden "Saltarello" wurde ein improvisiertes "Prélude" vorangestellt.

    * Musikbeispiel: Anonymus (14. Jh.) - Prélude/Saltarello

    Pierre Hamon, vielseitig interessierter Flötist und Spezialist für die instrumentale Musik des Mittelalters, begreift diese "Istanpitte" und "Saltarelli" der Londoner Quelle des 14. Jahrhunderts als einen Klangkosmos. Er vergleicht diese Instrumentalmusik mit dem vokalen Stil, der in der damaligen Zeit überaus reich an Farben und Kontrasten war. Seiner Meinung nach war die Nähe zu den heutigen Gesangsstilen des Mittleren Ostens und Indiens bedeutsamer und größer, als das, was üblicherweise heute auf Schallplatten mit mittelalterlicher Musik erklingt. In dieser ästhetischen Welt, so Hamon, müssen die Instrumentalisten noch mehr Ornamente angewendet haben, als die Sänger und daher mit einem Artikulationsreichtum und einer Farbe gespielt haben, die heute in diesem Repertoire "unerhört" klingt, aber bei den orientalischen Musikern durchaus zu finden ist. Diesen west-östlichen Austausch praktiziert zum Beispiel auch Ken Zuckerman, der ebenso wie Hamon Meisterklassen an der Basler Schola Cantorum hält.

    * Musikbeispiel: Anonymus (14. Jh.) - Prélude/ Saltarello (Anfang) aus: "Principio di virtu"

    Sie hörten Pierre Hamon auf der Doppel-Flöte mit einem Prélude und dem Ausschnitt aus dem darauf folgenden Saltarello, veröffentlicht in dem Londoner Manuskript unter dem Titel "Principio di virtu", "Das Prinzip der Tugend".

    Was die genaue Herkunft der Stücke, ihre Bestimmung und ihre Interpretation anbelangt, da wirft das Londoner Manuskript der Sammlung, die 1420 in den Besitz der Medici überging, eine Menge Fragen auf. Pierre Hamon stellt, nicht zuletzt aufgrund der Titel der Stücke, die schlüssige Behauptung auf, dass diese Musik wohl für den Hof der Visconti gedacht war. Schon der Musikwissenschaftler Kurt von Fischer mutmaßte, dass ein Teil der Musik bei der Heirat der Isabella von Frankreich mit Gian Galeazzo Visconti im Jahre 1360 gespielt wurde. Doch dies sind eben nur Vermutungen und es bleibt ebenso die Frage offen, ob ein Teil der einfacher strukturierten "Istanpitte" und "Saltarelli" getanzt wurde oder nicht. Dem Hörer dieser CD mögen diese offenen Fragen letztlich relativ egal sein, er kann sich von dieser unterhaltenden wie hochartifiziellen, ebenso suggestiven wie meditativen Musik in eine vergangene Welt versetzen lassen, in der Okzident und Orient näher beieinander lagen, als es heute der Fall ist. Aufgrund der einfallsreichen Interpretation mit ständig wechselndem Instrumentarium und ihrem stark improvisatorischen Charakter, wirkt diese Musik geradezu zeitlos.

    Hören Sie hier zum Abschluss noch einen traditionellen Saltarello aus der zentral-italienischen Provinz Lazio, der einer Sammlung von Ettore de Carolis entnommen ist, und den höfischen Saltarelli gegenübergestellt ist. Dieses Schäfer-Stück, gesungen von Carlo Rizzo, ist übrigens auch der einzige vokale Titel dieser Einspielung. Der nachfolgende Saltarello aus der Londoner Quelle, der schon zu Beginn der Sendung erklang, zeigt, wie nah sich Kunst- und traditionelle Musik im Mittelalter oft waren.

    * Musikbeispiel: Anonymus (14. Jh.) - Saltarello traditionell

    DIE NEUE PLATTE im Deutschlandfunk. Wir stellten Ihnen heute unter dem Titel "Istanpitta" - italienische Musik des Trecento vor, mit Pierre Hamon, Carlo Rizzo und dem Ensemble "Alla francesca". Erschienen ist die CD beim Label op.111 in Coproduktion mit naive classique .

    Diskografische Angaben

    CD:
    Titel: "Istanpitta" - Musiques de fête à la cour des visconti
    Solisten: Pierre Hamon, Flöte
    Carlo Rizzo
    Ensemble: Alla francesca
    Label: opus 111 / naive
    Labelcode: LC 5718
    Bestell-Nr.: OP 30325