"Diese leere Hülse, diese Fälschung eines Gelehrten."
Mit diesen Worten demütigte der türkische Staatspräsident Erdogan vor zwei Jahren seinen Erzfeind Fethullah Gülen vor einer Gemeinschaft muslimischer Theologen. Jetzt macht Erdogan den Prediger Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli in diesem Jahr verantwortlich und die Bevölkerung stimmt diesen Vorwürfen zu. Mehr sogar: Breite Teile der türkischen Bevölkerung fordern: Todesstrafe für Gülen.
Fethullah Gülen: "Wenn sie ein Zehntel von den Vorwürfen beweisen, bin ich dazu bereit, mich selber an die Türkei auszuliefern und sogar an den Galgen zu gehen."
Heißt die Antwort Fethullah Gülens, der seit 1999 im Exil in Pennsylvania in den USA lebt. Wo liegen die Wurzeln seiner Theologie? Der Begriff Theologie bezeichnet im Islam zwei unterschiedliche Richtungen, Fiqh und Kalam. Fethullah Gülen gehört zur Richtung des Kalam, auf der Suche nach der Wahrheit über Gott und die Botschaft des Propheten. Hier steht er in der Tradition des Sufismus, des mystischen Islam. Heiner Barz von der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf untersucht seit 2 Jahren die Bildungseinrichtungen der sogenannten Gülen Bewegung. Er versucht eine Annäherung:
"Gülen ist mehr ein Denker, oder ein Theologe, der Hinweise, Anregungen, Anleitungen für eine Alltagsfrömmigkeit gibt, wie gelebter Glaube sich im tätigen Leben auswirken soll. Das sind Dinge wie Bescheidenheit, Dinge wie Opferbereitschaft, aber nicht gesellschaftliche oder gar politische Einflussnahme."
"Ehrenwerter Lehrer"
Der türkische Theologe Mehmet Ali Sengül ist ein alter Weggefährte Gülens. Die beiden kennen sich schon seit über 50 Jahren. Für Sengül ist er ein Lehrer, aber auch ein Freund.
"Gülen ist insofern auch ein sunnitischer Religionsgelehrter, da er darauf schaut, wie der Prophet Mohammed den Koran verstanden und umgesetzt hat. Er ist weit von jeglicher Radikalität entfernt und stets um Ausgleich bemüht. Er strahlt gegenüber weltlichen Dingen ein sehr großes Desinteresse aus. In seinem Islamverständnis ist der Mensch wertvoll, weil er ein Mensch ist."
Obwohl Mehmet Ali Sengül seit einem halben Jahrhundert mit Gülen befreundet ist und beide gleich alt sind, nennt er ihn seinen Hocaefendi, also "seinen ehrenwerten Lehrer". Sengül wirkt bescheiden, klein und zerbrechlich. Er spricht respektvoll über seinen Freund und Lehrer:
"Gülen lässt sich nicht von seinen Emotionen leiten und redet nicht einfach drauf los. Im Gegenteil. Er argumentiert mit Vernunft. Er lebt in dem Bewusstsein, dass er eines Tages für jedes Wort und jede Tat vor Gott Rechenschaft ablegen muss."
Christoph Bultmann ist Professor für Evangelische Theologie im Martin Luther Institut der Universität in Erfurt. Er hat sich als christlicher Theologe wissenschaftlich mit den Texten von Fethullah Gülen beschäftigt.
Er sagt: "Ich bin Bibelwissenschaftler und als Ansatzpunkt interessiert mich die Frage, wie Gülen den Koran zum Leben bringt, in der Koranauslegung und Deutung. Mir scheint, dass es Gülen gelingt, dass er aus dem Text des Koran Gedanken für die Glaubenden erschließt, die zu einem tiefen innerlichen Glaubensleben führen."
Religiöse Konkurrenz
Diese besondere Betonung des inneren Glaubenslebens sieht Christoph Bultmann im Zusammenhang mit der religiösen Herkunft Gülens.
"Gülen vertritt, denke ich, selbstbewusst eine Glaubensrichtung, die in der Türkei an die Tradition von Said Nursi anknüpft, die im Rahmen des Sufismus zu verankern ist, oder sich mindestens an Traditionen des Sufismus anlehnt. Und ich kann nur vermuten, dass diese selbstständige Bewegung kritisch gesehen wird, gewisserweise vielleicht sogar als eine Konkurrenz."
Das war nicht immer so. Fethullah Gülen war trotz seiner religiösen Wurzeln im Sufismus, früher ein Beamter der türkischen Religionsbehörde. Durch seine besondere rhetorische Begabung wurde er schon in jungen Jahren zu einem prominenten Wanderprediger. Dass heute, nach dem gescheiterten Putschversuch, der Präsident der türkischen Religionsbehörde Fethullah Gülen einen unislamischen Terroristenführer nennt, wundert Gülens Freund Sengül nicht.
"Das ist typisch für den "politischen Islam" Er beansprucht die politische und religiöse Macht. Nach dem Motto: Ich tue politisch Gutes für das Land, also müssen die Menschen meinen religiösen Anordnungen gehorchen. Eine alternative muslimische Gruppe, die die Fehler der Regierenden anprangert und sich auch noch um die Bildung der Bürger kümmert, die ist natürlich nicht gern gesehen."
"Türkischer Ajatollah"
Ein anderer religiöser Führer, der die Befürchtungen gegenüber Gülen verstärkt, ist der iranische Geistliche Ajatollah Khomeini. Auch er lebte im Exil, kehrte aber als revolutionärer Herrscher in den Iran zurück und verwandelte das Land in einen schiitisch islamischen Gottesstaat. Auch der türkische Justizminister sagte gegenüber türkischen Medien, Gülen wollte als ein türkischer Khomeini zurückkehren. Heiner Barz von der Universität Düsseldorf kennt diesen Gedanken.
"Ajatollah Khomeini hat sich sehr schnell als intoleranter und mittelalterlicher Herrscher mit seinem Regime dort etabliert und das ist so ein bisschen die Befürchtung, dass man glaubt, wenn Fethullah Gülen erstmal richtig Macht hätte, würden seine Handlung nach dem Vorbild von Khomeini ablaufen. Es spricht aus meiner Sicht nicht viel dafür."
Da Gülen gerade eine solche Alternative zum politischen Islam anbietet, wird er von den Vertretern des politischen Islam und den Gegnern der Religion gleichermaßen angefeindet.
Gülens Koranverständnis
Vertreter des politischen Islam, aber auch andere islamische Gelehrte haben oft die Vorstellung, man müsse alle Stellen im Koran nach dem Wortlaut befolgen. Der evangelische Theologieprofessor Christoph Bultmann zeigt an einem Beispiel, wie Gülen mit dem Koran umgeht.
"Der Koran ist ein Fundament, auf das sich alle Muslime verständigen. Und mir ist zum Beispiel bewusst, wie Gülen in seiner Mahnung und Verurteilung von jeglicher Gewalt und Terrorismus auf Sure 5, Vers 32 Bezug nimmt, um zu sagen, einen Menschen töten ist wie die Menschheit zu töten."
Ein anderes Beispiel ist ein Vers im Koran, der immer wieder zitiert wird, wenn es darum geht, mit dem Koran zu rechtfertigen, dass man eine Frau schlagen darf. Die evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen findet, neben einigen weiteren Punkten, den Weg Gülens im Umgang mit dieser Stelle kritisch. Christoph Bultmann erklärt Gülens Auslegung.
"Gülen ist nicht ein Ausleger des Korans, der vielleicht im Sinne eines modernen liberalen Theologen sagen würde: Das war ein Irrweg in der Zeit des Propheten, leider steht es im Koran, wir verzichten darauf heute."
In diesem Fall, so Christoph Bultmann, rüttelt Gülen nicht am Fundament, also dem Grundgerüst des Koran, sondern er sucht eine Lösung auf der theologischen Ebene.
"Gülen sagt, es steht im Koran, aber es muss in Beziehung gesetzt werden zu unzähligen anderen Aspekten über das Verhältnis von Mann und Frau, für die es auch eine Basis im Koran gibt und daraus ergibt sich ganz klar das Prinzip der Gewaltfreiheit und daraus ergibt sich ganz klar das Prinzip der Gleichberechtigung, so dass in der Konsequenz ein Auslegungsvorgang sich ergeben muss, dass eben Handlungsoptionen, die im heiligen Text genannt werden dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass man sie in ein Gefüge von Bedingungen einbaut, die nie erfüllt sein können."
Neben dem Koran hat in der Didaktik Gülens der Prophet Mohammed eine zentrale Bedeutung.
"Soweit ich sehe, hat Gülen eine umfassende Kenntnis dieser Tradition und er setzt darauf, den Propheten als Vorbild erkennbar zu machen, indem er jeweils einzelne Aspekte dieses Bestandes akzentuiert und es gelingt Gülen, nach dem was ich jetzt in den Schriften finde, sehr wertvolle Traditionen herauszugreifen und herauszustellen."
Bloß kein Selbstruhm
Jenseits der politischen Berichterstattung, die in der Regel ein gewisses Sektenparadigma strapaziert und bei der oft politische und religiöse Argumente vermischt werden, ist Gülen auch für manche nichtmuslimische Experten und christliche Theologen durchaus ein interessanter religiöser Denker und auch eine ernst zunehmende Stimme im Dialog der Religionen. So gibt eine von der Politik losgelöste Betrachtung auch Aufschlüsse über eine sonst in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannten Seite des umstrittenen islamischen Religionsgelehrten.