Wer immer satt gewesen ist, weiß nicht, was Hunger bedeutet. Wer immer in Freiheit gelebt hat, dem fehlt das Gespür dafür, wie Unfreiheit sich anfühlt. Darum ist die Freiheitsoper 'Fidelio' im Westen seit den 1960er Jahren tendenziell eher am Rande behandelt worden. Beethovens Symphonien hatten immer Vorrang. In Osteuropa dagegen klangen die Melodien über die Hoffnungen und Sehnsüchte der Leonore nach, die als Mann verkleidet unter dem Namen Fidelio sich in das Gefängnis ihres Mannes begibt. Dort will sie dem seit Jahren als politischer Gefangener in Kerkerhaft einsitzenden Mann Florestan beistehen. Dafür täuscht Fidelio den Kerkermeister und dessen Tochter Marzelline. Bei aller Fremdheit und Distanz dieser Oper gegenüber ist es dann doch immer wieder erstaunlich, wie sie den Zuhörer schon mit der Ouvertüre in ihren Bann zieht.
Beklemmung, Enge, Angst und die Atemnot der Gefangenen vermag diese Musik nach wie vor unmittelbar zu übertragen. Vor allem auch das zögernde Aufatmen, wenn die Kerkerinsassen auf Anweisung des Kerkermeisters Rocco endlich einmal wieder an die frische Luft dürfen und das Tageslicht sehen. Das Bonner Beethoven-Orchester unter Hendrik Vestmann macht das ganze Spektrum von Verzweiflung, Sehnsucht und Befreiung pointiert, energisch und sensibel zugleich hörbar.
Auch wenn die Hörner eine ganze Weile brauchen, bis sie sich akklimatisiert haben. Die Bonner entwickeln den lebendigen und frischen Geist des Republikaners Beethoven. Die Sänger wirken dabei tüchtig mit, allen voran Yannick-Muriel Noah als Fidelio und ein gefährlicher, bedrohlicher Mark Morouse als tyrannischer Gouverneur Don Pizarro, der den inhaftierten Florestan endlich ermorden will.
"Welch ein Augenblick! Die Rache werd' ich kühlen! Dich rufet dein Geschick! In seinem Herzen wühlen, o Wonne, großes Glück!"
Auf der schwarzen Bühne ist ein moderner Gefängnistrakt aus Eisentreppen, Stacheldraht und Gitterwänden zu sehen. Die Neoleuchten erhellen das Schwarz der Gefängnisnacht kaum. Die Bühne dreht sich. Andere Ansichten des Straflagers kommen in den Blick. Alle Signale stehen auf Gegenwart. Doch die Kostüme, die Uniformen und Gewehre stammen aus alter Zeit. Marzelline, die Tochter des Kerkermeisters, verliebt in den vermeintlichen Mann Fidelio, trägt ein himbeerrotes Petticoat Kleid. Nikola Hillebrand singt sie mit wunderbar naiver Innigkeit.
"O wär' ich schon mir dir vereint, und dürfte Mann dich nennen! Ein Mädchen darf ja, was es meint, zur Hälfte nur bekennen!"
Mit Marzellines Kitschkostüm aber beginnen die Probleme der Inszenierung. Allzu deutlich soll der Rock uns klarmachen, daß wir es bei der Kerkermeisterstochter mit einem verliebten Dummchen zu tun haben, das vollkommen unpolitisch ist und das blind vor Verliebtheit nicht sehen will, welche Greueltaten um sie herum geschehen. Aber genau das alles erzählt uns die Musik auch. Regisseur Jakob Peters-Messer verdoppelt also die Botschaft und erklärt, was wir schon wissen.
Und so ist es immer. Er bebildert das Offensichtliche. Wenn die Gefangenen von der Gruft des Kerkers singen, zucken sie furchtsam zusammen, wenn sie die frische Luft beschwören, treten sie erwartungsvoll nach vorn. Das hat schon etwas von Schülertheater. Auch wenn zum jubelnden Schlußchor alle im Outfit der Französischen Revolution die Bühne stürmen. Theater als Volkshochschule. Bühnenästhetisch betrachtet ist diese Gefängniskellergeschichte tatsächlich im Keller gelandet. So unambitioniert, so gefällig und positionslos wird Musiktheater heute eigentlich nur selten inszeniert, es sei denn auf Amateurbühnen.
Bei dieser Bonner Aufführung hapert es aber auch an anderen Stellen. Der Sänger des Florestan ist eine Fehlbesetzung, er ist überfordert. Die Aussprache der gesprochenen Textpassagen der des Deutschen kaum mächtigen Sänger ist katastrophal. Das Bühnenbild wirkt auf den ersten Blick gewollt reduziert, zeigt sich aber im Verlaufe der zweistündigen Aufführungszeit als simple Billigproduktion. Will die Bundestadt Bonn ihre Oper kaputtsparen? Was sie dann haben wird, wäre beim neuen „Fidelio" zu besichtigen.