Wie die Welt klingt, wenn ihr die Freiheit versagt wird, wenn das Leben ein Kerker ist und alles zu ersticken droht, das macht Daniel Barenboim am Pult gleich zu Beginn seines Mailänder "Fidelio" sinnfällig. Beklemmender und hoffnungsloser kann man diese zweite von Beethoven für seine einzige Oper komponierte Ouvertüre kaum spielen lassen. Die verlorene und sinnlos gewordene Zeit dehnt sich auf eine Weise, dass der Zuschauer sogar am Fernseher fast Atemnot bekommt.
Beethovens Freiheits-Oper wie ein Riesengebirge neu kartografiert
Barenboim empfindet das Elend ganz und gar mit, wie er alle klanglichen Regungen des Werkes im Verlaufe des kurzweiligen Abends auslotet und Beethovens Freiheits-Oper wie ein Riesengebirge neu kartografiert. Das Orchester der Scala weiß genau, was ein Klangfeuerwerk ist, wenn sich das Spektrum der Frequenzen ungehindert ausbreiten kann und das Universum zu pulsieren und wieder zu leuchten beginnt.
Bevor die als Mann verkleidete Leonore unter dem Namen Fidelio ihrem eingekerkerten Ehemann Florestan zur Befreiung verhelfen kann, dauert es noch gute eineinhalb Stunden. Die Mailänder Bühne ist zu einem finsteren Labyrinth aus Betonsäulen und -wänden und Eisenleitern ausgebaut worden. Nach einem regulären Gefängnis von heute sieht das nicht aus, eher nach einem Hinterhof einer heruntergekommen Großstadt oder nach einer stillgelegten Tiefgarage. Uniformierte Wächter gibt es auch nicht, die Leute tragen Alltagsklamotten, Jeans und Kapuzenpullis. Im Blaumann wischt Fidelio den Boden, Marzelline bügelt die Wäsche und Kerkermeister Rocco fummelt an seinem Holztisch in allen möglichen Unterlagen herum. Regisseurin Deborah Warner und ihr Team haben Beethovens Kerkerdrama nicht in ein konkretes Gefängnissystem irgendeiner Diktatur unserer Tage verlegt.
Dezentes Anspielen auf verschiedene Formen des Freiheitsentzugs
Sie spielen dezent auf verschiedene Situationen vorenthaltener Freiheit an. An soziale Unterdrückung muss man denken, an afrikanische Flüchtlinge in Auffanglagern, an die Gewalt des organisierten Verbrechens und Grenzmauern zwischen Staaten. Klug deutet Deborah Warner ein weites Feld an Bezügen an und vertraut auf die Phantasie des Zuschauers, was im Regiegeschäft leider zu selten der Fall ist. Warner scheut sich auch nicht, konkreten Motiven in Musik und Libretto zu folgen. Viel ist dort ja die Rede von Gott und Vertrauen auf ihn. Der gefangene Florestan trägt ein kleines Kreuz an einer Halskette und hält sich mit der Faust in höchster Not daran fest. Am Ende, wenn die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist, beginnt es, vom Bühnenhimmel zu schneien - am zweiten Advent, zwei Wochen vor Heiligabend kann das kein Zufall sein. Florestan hat seine Hoffnung auch auf Leonore gesetzt. Klaus Florian Vogts lyrischer Tenor vibriert nur so von Sehnsucht und Vertrauen.
Florestan: "Ich seh', wie ein Engel im rosigen Duft sich tröstend zur Seite mir stellt, ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich, der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich."
Klaus Florian Vogts Florestan ist sängerisch betrachtet der fünfte musikalische Höhepunkt dieser Inszenierung. Nach ihm tritt noch Peter Mattei als rettender Minister auf und zuvor waren es Mojca Erdmann als jugendlich blühende Kerkermeisterstochter Marzelline.
"Mir ist so wunderbar, es engt das Herz mir ein."
Der mit ihrer Natürlichkeit bezaubernden Mojca Erdmann folgte ein üppig blühender, herrlich farbenreicher Fidelio, gesungen von Anja Kampe.
Fidelio: "Wie groß ist die Gefahr, wie schwach der Hoffnung Schein!"
Nach Anja Kampe gesellte sich im ersten Quartett mit Papa Rocco die Baßwärme von Kwangchul Youn hinzu.
Rocco: "Sie liebt ihn, es ist klar; ja, Mädchen, er wird dein."
Und schließlich noch der unglücklich verliebte Jaquino, klar und strahlend Florian Hoffmann.
Jaquino: "Mir sträubt sich schon das Haar, der Vater willigt ein."
Besetzung kaum zu überbieten
Diese Besetzung ist kaum zu überbieten. Nur Falk Struckmann als Erzbösewicht Don Pizarro konnte dem hohen Niveau nicht gerecht werden. Eine ansonsten stimmvolle und stimmige Inszenierung. Das ist reines Theaterglück. Auch am Fernseher mit entsprechenden Lautsprechern oder Kopfhörern. Zumal bei einer so guten Kameraregie.
Ein Wermutstropfen ist allerdings die TV-Präsentation von Moderatorin Annette Gerlach. So devot gegenüber der Kunstform Oper und ihren Machern muss man heute nicht mehr sein. Die Künstler selbst wollen kaum auf diese Weise angehimmelt werden. Und Begeisterung braucht man dem Publikum hier nicht einreden. Das schafft dieser "Fidelio" allein.