Michael Köhler: Kommende Woche geht es wieder los. Die Fußball-WM in Russland startet. Rechtzeitig erscheint ein kritisches Buch dazu. Es trägt den Titel "Das wunde Leder. Wie Kommerz und Korruption den Fußball kaputt machen". Die Autoren Klaus Zeyringer und der Schriftsteller Ilija Trojanow haben darin auch ein Manifest verfasst, das im Boykott gipfelt, sich kein Spiel anzusehen. Sie kritisieren, es gehe nur noch um "Macht und Geld".
Ist das realistisch? Kann es authentischen Fußball ohne Fernsehen und Finanzen noch geben?
Die Doppelpässe zwischen Politik und Fußball reizten Literaten und Intellektuelle immer. In den Flanken in den freien Raum von Stürmer Günter Netzer wurde gern die Vorwegnahme der Ostpolitik Willy Brandts gesehen. Heute zeigen sich Staatschefs wie Putin oder Erdogan gern mit den Helden des Fußballs.
Kurz, die Allianz von Fußball und Politik, Fußball und Ökonomie ist nicht neu, Herr Zeyringer?
Klaus Zeyringer: Nein, das ist überhaupt nicht neu. Das begann schon von Anfang an, das heißt mit der Entstehung der Profiliga in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und das zieht sich durch die 20er-, 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Neu ist allerdings die extreme Kommerzialisierung im Zusammenhang mit dem Neoliberalismus in den 1970er-, vor allem 1980er-Jahren, und das griff dann so richtig ab den späten 1990er-Jahren.
"Die Fernsehgelder begannen immer mehr zu sprudeln"
Köhler: Wir müssen auch über Medien reden. Sie und ich erinnern sich bestimmt gut, als ein gewisser Außenminister Willy Brandt bei der IFA 1967 das Farbfernsehen in Betrieb nahm, und da ging doch eigentlich erst die Post richtig ab, nämlich die Allianz von Fernsehära und Fußballmarkt, oder?
Zeyringer: Das ist völlig richtig. Das kann man mit 1970, der WM in Mexiko ansetzen. Da wurde das Farbfernsehen vom Fußballstadion aus in alle Welt erstmals so richtig übertragen, wiewohl zuvor der WM-Ball Telestar für Schwarz-Weiß noch tauglich gemacht wurde. Aber da begann so richtig die Fernsehära. Das heißt, auch in demselben Moment begannen, die Fernsehgelder immer mehr zu sprudeln.
Köhler: Kommen wir mal zu dem Leitgedanken Ihres Buches "Das wunde Leder", das Sie zusammen mit Stefan Gmünder geschrieben haben, wie Kommerz und Korruption den Fußball kaputt machen. Wir sprechen kurz vor der Eröffnung der WM. Eigentlich läuft die schon in den Herzen und in den Verkaufsstuben, nämlich die Unterhaltungselektronik wirbt schon lange wieder für große Fernseher und "Mach Dein Zuhause zum Stadion", wirbt immer so eine Einrichtungs-Website. Da kriege ich immer E-Mails von.
BVB in Dortmund und Bayern München sind AGs, daran haben wir uns gewöhnt. Uli Hoeneß von Bayern München, Helge Achenbach, der mal Chef von Fortuna Düsseldorf war, der Kunsthändler, waren beide verurteilt und im Knast. Also Kommerz und Gaunerei gehören zum Fußball?
"Kommerz und Gaunerei gehören insgesamt zusammen"
Zeyringer: Selbstverständlich! Kommerz und Gaunerei gehören insgesamt zusammen, und wo viel Geld ist, ist viel Korruption im Spiel. Das ist nirgendwo was Neues. In manchen Ländern wird das etwas intensiver betrieben, weil die Sozialisation entsprechend ist, die Gesetzgebung. Ich spreche jetzt zum Beispiel von Südamerika, wo ja kein einziger Verbandspräsident der letzten 20 Jahre nicht etwa im Knast ist oder gegen ihn ermittelt wird. Diese Zusammenhänge sind ganz intensiv zu bemerken. Und natürlich will die Wirtschaft davon intensiv profitieren. Wo großes Suchtverhalten ist, da gibt es große Verdienstmöglichkeiten, und Fußball ist für das heutige Publikum ganz eindeutig eine Sucht.
Köhler: Ich zähle auf Ihren Widerspruch, weil ich Sie ein bisschen ärgern möchte. Hat aber der Fußball trotz Ihrer Kritik doch nicht ein ganz großes Versprechen, nämlich das Aufstiegsversprechen? Nehmen wir nur mal so jemand Strittigen wie Giovanni Infantino, Präsident des Weltfußballverbandes, der ja nun bekanntermaßen Kind von Gastarbeitern ist.
Zeyringer: Ja, das schon. Meinen Widerspruch können Sie gern immer wieder haben, wenn Sie wollen, aber in diesem Fall kann ich Ihnen durchaus zustimmen. Die Karriere von Infantino ist höchst interessant und es ist ja auch nicht uninteressant, dass er als Nachfolger von Sepp Blatter aus dem Nachbardorf im Wallis stammt. Diese Karriere eines Funktionärs lässt sich ja weit zurückverfolgen.
Was Sie sagen gilt natürlich auch für die Fußballspieler selbst. Tatsächlich kommen durch Fußball einige aus der Armut. Nur man darf nicht vergessen, dass …
Köhler: Der Maradona-Effekt.
"Das Publikum kann dem Ganzen sein Mittun entziehen"
Zeyringer: Ja, und viele andere, vor allem aus Afrika auch, Drogba und solche Spieler. Aber man darf nicht vergessen, dass auf einen, der reüssiert, mindestens tausend kommen, die dann untergehen irgendwo und in völliger Armut wieder verschwinden.
Köhler: Kommen wir mal zum Glutkern Ihres Buches, der sich nämlich ganz hinten findet: ein Manifest wider die Sportdiktatur. Das hört sich schon an wie in Studentenzeiten. Ich zitiere ganz kurz die entscheidenden drei Zeilen: "Schauen wir uns kein einziges Match mehr an. Wir sind keine Quotenbringer, keine dummen Schafe, keine dumpfen Konsumenten. Wir sind wahre Fußballfans." – Herr Zeyringer, was ist denn das, der Kult des Authentischen?
Zeyringer: Ich habe das mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow geschrieben, und zwar nach einer verärgerten Nacht über die Zustände insgesamt im Sportbetrieb und im Fußball vor allem, wo wir der fixen Meinung waren, dass das Publikum nur einen Zugriff auf empörende Zustände und skandalöse Umgebungen hat, wenn es dem Ganzen sein Mittun entzieht.
Das heißt, durch die Fernsehgelder wird ja diese Spirale der unglaublichen Geldsummen – man muss sich da einmal die Relationen vor Augen halten - weiter angetrieben, und wenn nun tatsächlich weniger Menschen fernsehen würden, dann würden die Fernsehgelder nicht mehr so sprudeln. Dann könnten die Vereine und die Verbände nicht mehr mit so viel Geld arbeiten. Dann würde das unserer Meinung nach das Ganze doch etwas menschlicher gestalten.
"Die Zustände rund herum, die finde ich verheerend"
Köhler: Herr Zeyringer, ich verdächtige Sie, ein hoffnungsloser Nostalgiker zu sein. Sie schätzen uns Uwe und meinen damit Uwe Seeler - man muss schon wieder daran erinnern, manch einer kennt ihn schon nicht mehr - und halten Vereinstreue, Ehrlichkeit, Kampfgeist und Nähe hoch. Was ist das? Ist das noch einmal der Kult einer Abwesenheit des Sekundären? Rudi Völler hätte ja gesagt, was die damals gemacht haben, Beckenbauer, Seeler und so weiter, das war Standfußball.
Zeyringer: Das ist tatsächlich richtig. Wenn man sich heute diese Spiele anschaut, war das Standfußball und es fehlte tatsächlich die unglaubliche Geschwindigkeit, die man heute im Fußball hat. Allerdings hatte es damals auf dem Spielfeld einen unglaublichen Witz, wenn man sich etwa an den Brasilianer Garrincha erinnert, wie der die Außenlinie entlangdribbelte und dann wieder zurückdribbelte und wieder entlangdribbelte. Das hatte schon einen unglaublichen Lusteffekt auch.
Sie haben recht: Ich bin zum Teil Nostalgiker. Ich bin auch Optimist. Ich finde aber dennoch den heutigen Fußball faszinierend. So ist es nicht, dass ich ihn nicht faszinierend finden würde. Das ist mitunter fast wie Zirkus. Nur die Zustände rund herum, die sich dann auch auf dem Spielfeld auswirken, die finde ich verheerend.
Köhler: Sie sagen, es muss Schluss sein. Sollte man nicht vielleicht eine paradoxe Intervention machen, das Ganze vielleicht überbieten, so eine Art Grundeinkommen von zehn Millionen Euro für jeden Ligaspieler, um die Albernheit des Ganzen zu zeigen?
"Ein Spieler von Hamburg verdient zehnmal so viel, wie der deutsche Bundespräsident"
Zeyringer: Na ja. Wer die Albernheit bis jetzt nicht gesehen hat, dem kann man sie nicht mehr richtig vor Augen halten. Die Albernheit zu erklären, dass Neymar ein WM-Botschafter für Katar sei und dafür 222 Millionen Euro kassiere, wofür ein nepalesischer Arbeiter in Katar, ich glaube, 60.000 Jahre arbeiten müsste oder so irgendwie, oder dass ein Spieler von Hamburg zehnmal so viel verdient wie der deutsche Bundespräsident, viel mehr kann man das nicht mehr steigern. Das ist wie in der Politik heute, wo sich die Satire schwer tut, weil die Politik selbst schon Satire ist.
Köhler: Einst ging es beim Sport, schreiben Sie, um Hingabe und Leidenschaft, Gemeinschaft und Identität. Inzwischen geht es nur noch um Macht und Geld. Das haben wir jetzt hinlänglich ausgefaltet. Aber gibt es nicht in Zeiten der Teilstaatenwünsche, der Spaltungen oder der Sezession, wie der Philosoph Bolaffi gerade geschrieben hat, angesichts der italienischen Zustände, doch einen schönen Effekt, nämlich die Synchronisierung der Weltgemeinschaft?
"Fußball ist heute noch das einzige Volksmärchen"
Zeyringer: Ja, das schreibt auch mein Freund Daniel Kehlmann demnächst in der "Zeit", der unser Buch bespricht und der meint - das habe ich von ihm -, dass Fußball die einzige Erzählung sei, die weltweit die Menschen verbinden könne. Das heißt, man kann mit Menschen überall auf der Welt reden, indem man über Fußball redet. Das ist wohl richtig und wichtig und das stimmt auch, dass möglicherweise Fußball heute das einzige Volksmärchen noch ist. Diese Effekte gibt es selbstverständlich auch, und ich bin ja weit davon entfernt, dem Fußball irgendwelche positiven Eigenschaften abzusprechen, und bin selbst ein faszinierter Fan des Fußballs und tue mich natürlich entsprechend schwer, dem Boykottaufruf, den ich selbst gestartet habe, zu folgen.
Köhler: Eben! Ich wollte gerade sagen: Sie sind nicht in schlechter Gesellschaft, mit Boykotts sind Sie nicht allein. Briten und Isländer schicken keine Regierungsmitglieder. Es gibt Aufrufe auch an andere Europaabgeordnete in einem Brief an die EU-Mitgliedsstaaten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass, wenn es kommende Woche losgeht, Sie nicht vorm Fernseher sitzen.
Zeyringer: Ihre Vorstellungskraft muss ich etwas befeuern. Ich werde tatsächlich nicht vorm Fernseher sitzen. Ich bin nicht nur Nostalgiker, sondern habe auch so etwas wie Selbstachtung. Ich habe zwar jede Menge Ablehnung für diesen Boykott erfahren. Viele Freunde und Bekannte, die Fußballfans sind, sagen, wir haben ja wohl recht mit dem Buch, aber vor dem Fernseher werden sie doch sitzen.
Auch mein Co-Autor Stefan Gmünder, der ein Schweizer ist, der seit 25 Jahren in Österreich lebt, sagt, die einzige wirkliche Verbindung zu seiner Heimat Schweiz sei die Nati, die Nationalmannschaft. Nur: Ilija Trojanow und ich, wir werden tatsächlich nicht vor dem Fernseher sitzen.
"Aufregungen dienen immer dazu, die mediale Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten"
Köhler: Ein letztes. Ich kann Sie nicht entlassen, ohne ein Wort über den deutschen Kader zu verlieren - gerade jetzt auch nach dem Fall ins Wasser beziehungsweise nach dem Regenschauer, den sie gerade gegen das österreichische Team erlitten haben. Überzeugt Sie der Kader?
Zeyringer: Ja, selbstverständlich. Ich meine, die Aufregung, ob nun Leroy Sane mitfährt oder nicht, die halte ich für übertrieben. Das sind Entscheidungen, die sind sicherlich wohl überlegt. Das sind Entscheidungen nach unzähligen Trainingsbeobachtungen. Die haben sicherlich ihre Gründe, das so zu entscheiden. Und ob da nun der eine oder der andere auf der Bank sitzen wird, das hat, glaube ich, sehr wenig Bedeutung, denn die deutsche Elf steht im Grunde ja schon, außer es gibt unvorhergesehene Elemente.
Die Aufregungen dienen immer dazu, auch die mediale Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, und man bemerkt das überall in den Medien jetzt, wie langsam die Spannung hochgetrieben wird, damit dann das Suchtverhalten so richtig bedient werden kann.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eige