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Martin Scorsese zum 80. Geburtstag
Film als Passion

Diese Filme machten Martin Scorsese berühmt und zu einem Vorbild der jüngeren Generation von Filmemachern: „Taxi Driver“, „Raging Bull“, „Goodfellas“ oder „Gangs of New York“ und „The Wolf of Wall Street“. Als Künstler ist Scorsese wie kaum ein anderer lebender Regisseur überzeugt, ja besessen von den Möglichkeiten des Filmischen.

Von Rainer Rother |
Portrait von Martin Scorsese, aufgenommen am 24.10.2019 bei der Premiere des Films The Irishman im TCL Chinese Theatre IMAX.
Der Filmregisseur Martin Scorsese wird am 17. November 2022 80 Jahre alt (imago images / Starface / AdMedia / Starface via www.imago-images.de)
Martin Charles Scorsese, geboren am 17. November 1942 in Queens, New York City,  ist ein US-amerikanischer Regisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Schauspieler. Er gehört zu den einflussreichsten und bedeutendsten Regisseuren des zeitgenössischen amerikanischen Kinos. Mit respektvoller Ironie nennt man ihn einen „hardcore Cineasten“. Für Martin  Scorsese ist die Filmgeschichte seine Passion. Er führt ein Leben für den und mit dem Film. Als eifriger Sammler von Filmkopien und -plakaten sucht er die geliebten Werke zu bewahren, als geschickter Lobbyist die Restaurierung gefährdeter Titel zu sichern. Als enthusiastischer Filmessayist stellt er den Zuschauern seine Perspektiven auf die Historie der amerikanischen und der italienischen Kinematographie vor, die ihn besonders geprägt haben. Diese Sendung würdigte Martin Scorsese aus Anlass seines 70. Geburtstags, die wir nun zum 80. Geburtstag noch einmal wiederholen.
(Wh. v. 11.11.2012)
Rainer Rother, geboren 1956, war bis 1991 Chef der Kinemathek in Berlin, leitet seit April 2006 die Retrospektive der Berlinale und zeichnet für die Berlinale Classics sowie für die Filmreihe zur Hommage verantwortlich.

Ein Mann, allein in seinem Zimmer. Er fixiert sein Spiegelbild: „You talkin´to me?“ - Du quatschst mich an?
Vor dem Spiegel übt er, aus dem weiten Ärmel seiner Armeejacke eine Pistole gleiten zu lassen. Auf einer selbst gebastelten Armschiene, mit der die Waffe geführt wird, bis sie in seiner Hand landet.
Immer wieder löst er die Waffe aus, zielt auf den Spiegel.
Seine Sätze: ein Aufschaukeln der Aggression.
Seine Hoffnung: Die Konfrontation werde unvermeidlich.
Seine Haltung: als wäre er der Angegriffene, aber auch derjenige, der es sich nun nicht mehr bieten lassen will, als Niemand zu gelten.
Mit dieser Inszenierung definiert der Regisseur Martin Scorsese einen Wendepunkt in seinem Film "Taxi Driver". Hierhin trieb es den Taxifahrer Travis Bickle, hierhin aber steuerte er sich auch selbst. In eine Situation, in der er probeweise die Waffe zieht, noch ist nur das Klicken des Bolzens zu hören, noch ist die Waffe nicht scharf. Eine Probe, mit dem Spiegelbild als Gegenüber. Die spürbare Aggression richtet sich auch gegen die Figur selbst. Gespielt wird sie von Scorseses bevorzugtem Darsteller dieser Jahre, von Robert de Niro. Er hat die Sätze improvisiert, mit denen sich seine Figur zu einem Mann stilisiert, der sich nichts gefallen lässt, zu einem Aufrechten, der gegen den Abschaum da draußen aufzustehen bereit ist.
Die Intensität der Szene beruht auf der Verwandlung eines Niemand in einen zum Töten bereiten Killer. Das Bezwingende und die Zuschauer treffende der Inszenierung beruht aber auch darauf, dass sie das Angemaßte und Beliebige der Haltung durchsichtig macht. „A man´s got to do, what a man´s got to do“ -  ein Mann muss tun, was zu tun ist: Die Phrase wird in Travis Bickles Selbststilisierung aktualisiert. Scorseses Inszenierung jedoch dementiert sie durch kühle Feststellung dessen, was ist. Sie zeigt einen psychotischen, vor sich selbst fliehenden Verlierer, der sich ein Opfer imaginiert und über eine mörderische Tat seiner Existenz eine Rechtfertigung verschaffen will.
"Taxi Driver" war nicht nur für Scorsese der Beginn der internationalen Karriere. Der Film gewann die Goldene Palme in Cannes und machte Kasse in den USA. Mit ihm wurden Robert de Niro und Jodie Foster zu Stars, etablierte sich der Drehbuchautor Paul Schrader. Zugleich war es einer der letzten New-Hollywood-Filme - jener innovativen Welle, mit der junge „film buffs“ außerhalb und schließlich auch innerhalb des Hollywood-Systems reüssierten.
Mit Steven Spielbergs "Der weiße Hai" und George Lucas‘ "Krieg der Sterne" setzte sich jedoch zügig eine andere Erfolgsformel durch. Scorsese hatte an dieser Re‑Mythologisierung des amerikanischen Films, der Etablierung neuer Heldengestalten nicht teil. Seine Figuren blieben Verwandte von Travis Bickle, nicht von Luke Skywalker. Sie sind das Zentrum der Inszenierung, doch besteht diese regelmäßig in der Demaskierung der Figur. Robert de Niro ist als Jake LaMotta in "Raging Bull" eben so wenig ein Sympathieträger wie sein Rupert Pupkin in "King of Comedy" oder der Buchhalter und Spielkasino-Boss Ace Rothstein in "Casino".
Spätere Filme, in denen Leonardo DiCaprio ähnlich wichtig wird wie zuvor De Niro, zeigen das gleiche Bild. Die Hauptfiguren bleiben zerrissene Gestalten: Howard Hughes in "Aviator" ist Opfer seiner Zwangsvorstellungen; der als Undercover-Agent in die örtliche Mafia eingeschleuste Polizeischüler in "Departed - Unter Feinden" zerbricht an der Aufgabe, die ihn aus allen sozialen Zusammenhängen reißt. In "Shutter Island" schließlich spielt DiCaprio eine Figur, die vor ihren Taten in eine Traumwelt flüchtete. Helden gibt es nicht, nur furchtbar Getriebene. Selbst Jesus Christus wird bei Scorsese nicht zur Lichtgestalt. Doch vermag der Regisseur, diesen meist unsympathischen Hauptfiguren unser Interesse zu sichern: Er zeichnet die Gestalten illusionslos, aber nie eindimensional - und mit Empathie.
Scorsese legt Stilisierungen seiner Figuren bloß, statt sie unbefragt ins Bild zu setzen. Wo die mythischen Kinohelden sonst das Recht zur großen Geste besitzen, wo sie als Figuren „bigger than life“ ihr eigenes Kino-Recht setzen, da misstraut Scorsese, dieser Filmbesessene und leidenschaftliche Liebhaber gerade auch der Kinolegenden, diesem Bild. Oft wurde bemerkt, das seine Filme doppelgesichtig sind: effektives Kino und Reflexion über deren Mittel; voller Gewaltszenen und zugleich die Analyse nicht nur der Gewalt, sondern auch deren Darstellungsmittel. Scorseses Kino ist Erbe und Kritik der Filmgeschichte.
Man hat den Regisseur deswegen gelegentlich einen „hardcore Cinephilen“ genannt. Das war unzweifelhaft als Kompliment gemeint. Es wäre schwer, einen weiteren Filmemacher zu finden, bei dem eine ähnliche Besessenheit von der Kunst des bewegten Bildes zu diagnostizieren - und zu bewundern wäre. Mark Singer, der ihn im Jahr 2000 in Vorbereitung eines langen Porträts für den New Yorker mehrere Wochen begleitete, fasste den Eindruck aus seinen langen Gesprächen mit diesem schnell und gern redenden Cinephilen zusammen:
„Offenkundig war in seinem Gehirn jeder Film aufbewahrt, den er gesehen hatte - und er hatte vermutlich mehr gesehen als jeder andere lebende Regisseur, mehr als die meisten Filmkritiker. […] Scorseses Erinnerungsfähigkeit war nicht darauf beschränkt, Wendungen einer Geschichte heraufzubeschwören oder bemerkenswerte Szenen und Darstellungen; seine grauen Zellen bauschten sich mit Kamerawinkeln, Lichtsetzung, Filmmusik, Nebengeräuschen, Schnittrhythmen, den Filmcredits, Fakten zu Linsen und Filmmaterial, Entwicklungszeiten und Filmformaten. Instinktiv prägte er sich Fakten, Bilder und Gefühle ein, auf die er sich im Laufe seiner Karriere stützen konnte.“
Der Journalist mutiert angesichts der assoziationsreichen Gedankenketten Scorseses zum Bewunderer. Was Mark Singer allerdings vom Fan unterscheidet, ist sein Gespür dafür, wie dieser Überschuss der Erinnerung produktiv wird. Scorsese baut seine Filme vor dem Hintergrund eines Reservoirs bereits einmal gefundener und von ihm erinnerter ästhetischer Lösungen auf. Er fängt keinen Film bei Null an, sondern jeden auf der Höhe der bereits Erreichten.
Anders als sein Freund und Kollege Brian De Palma hat Scorsese die filmische Reminiszenz selten in den Vordergrund gerückt, eher als Grundierung seiner Filme begriffen. Wichtiger als erkennbare Variation ist es ihm, seine Geschichten vor dem Hintergrund eines historischen Kontinuums zu entwerfen. Filmgeschichte wandert in Scorseses Filme osmotisch ein.
Nie hat er aufgehört, seiner Leidenschaft zu frönen. Neues entdecken und in schon oft gesehenen Lieblingsfilmen bisher nicht Gesehenes zu finden ist seine Art, sich des Metiers zu versichern. Er ist ein Künstler, den man sich außerhalb der Welt des Films schlichtweg nicht vorstellen kann. Brillant erkundet er die diversen Formen, die Möglichkeiten der Gattungen in diesem Medium.
Spielfilme machen den umfangreichsten und bedeutendsten Teil des Werkes aus, sie sind der Kern seines Ruhmes. Mit ihnen vor allem hat er Generationen anderer Filmemacher beeinflusst. Von "Taxi Driver" über den 1980 entstandenen definitiven Boxerfilm "Raging Bull - Wie ein wilder Stier" und das Legendebildung dementierende Mafiaepos "Goodfellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia", von "Departed - Unter Feinden", mit dem er nach sechs vorherigen Nominierungen 2006 endlich den Oscar als bester Regisseur gewann, bis zu seinem bislang letzten Werk, dem in 3D gedrehten "Hugo Cabret": Fünf Jahrzehnte in der Filmbranche.
Dass er „Amerikas bester lebender Regisseur“ sei, wurde schnell zur gängigen Formulierung der Kritik. Nur der von Kollegen hochgeschätzte David Thomson urteilt in seinem zum Kultbuch avancierten Biographical Dictionary of Film wie gewohnt höchst persönlich und pointiert:
„Seit Jahren schon sprechen jene, die die Tradition und die Zukunft des amerikanischen Films hochhalten, von Scorsese als ‚unserem Besten‘.
Aber nicht alles ist gut. Wenn er unser Bester ist, dann benötigen seine Filme Ideen und Themen, die dauerhafter sind und nützlicher als die romantischen Fantasien, die bei einer lebenslangen Beschäftigung mit Filmen gewonnen worden sein mögen.“
Scorsese ist die erwachsene Version eines feinfühligen Jungen, der in einer rauen Gegend aufwuchs und sich seither verpflichtet fühlt vorzugeben, sowohl Killer wie Violonist zu sein. Das klingt abfällig, doch ich hoffe bloß, dass Scorsese eine komische, theatralische Ader in sich entdeckt. Denn es bekommt jedem Filmregisseur schlecht, den wilden Song der Straße zu heulen, umso mehr jemandem, der so jung so erfolgreich war wie Scorsese. Er ist ein Verehrer von Intelligenz, visueller Schönheit und Sprachstil, es gibt kaum eine Spur von Naturalismus bei ihm.
Thomsons ambivalente Wertung stammt aus etwa der  gleichen Zeit wie Mark Singers Eloge, aber er sieht in Scorsese vor allem den brillanten Stilisten - und vermisst eine Sättigung der Filme durch das, was man Welthaltigkeit nennen könnte. Ihm genügen die frappierenden filmischen Lösungen, von denen Scorsese Werk übervoll scheint, nicht. Ihn überzeugen zugleich jene Filme nicht, die für Scorsese tatsächlich Wunschprojekte waren.
Weder die an Luchino Viscontis Detailreichtum und Eleganz gemahnende Beschwörung der Upper-Class-Konventionen aus dem New York der 1870er Jahre in "Zeit der Unschuld" noch "Die letzte Versuchung Christi", wo Christus dem Kreuz entflieht und in der Gnade scheinbarer Normalität weiterleben darf, konnten seine Kritik mindern. So ging es Scorsese allerdings mit fast allen Stories, die als persönliche empfunden wurden. "Kundun", der Film über den jungen und heranwachsenden Dalai Lama, provozierte erwartungsgemäß die chinesische Regierung. Sonderliche Resonanz fand er ansonsten allerdings kaum.
Es scheint ausgemacht: Fast immer, wenn Scorsese ein Lieblingsprojekt in Angriff nahm, dankten ihm das weder Kritik noch Publikum. Die Auswahl der Stoffe frappierte die Branche, die Zuschauer wiederum fanden nicht, was sie sich vom Regisseur erhofft hatten. Es schienen zu untypische Filme zu sein. Was aber könnte ein typischer Scorsese‑Film sein? Nicht zuletzt der Regisseur fürchtet das schnell aufgeklebte Etikett, vor allem, weil es unvermeidlich mit der Vorstellung expliziter Gewaltdarstellungen assoziiert ist. In der Vorbereitung auf "Gangs of New York", ein Stoff, den er 20 Jahre mit sich herum trug, bis er ihn schließlich 2002 realisieren konnte, reflektierte er seine geänderte Haltung:
„Wenn man keine Humanität zeigen kann - zum Beispiel in der Anfangsszene von 'Gangs of New York' - dann muss man einen Weg finden, die Gewalt nicht explizit zu zeigen, damit es nicht tatsächlich nur eine Szene über Leute wird, die einander die Köpfe einschlagen. Denn das haben die Gangs schließlich getan, Kämpfen war Zeitvertreib. Diese Typen waren Krieger und ihre Götter waren Kriegsgötter. Ich bereite einen Film über Barbaren vor. Wenn ich jünger wäre, dann würde ich ohne Zweifel schockieren wollen.“
Schockierend waren das Massaker in "Taxi Driver", die Boxkämpfe in "Raging Bull", die Wutausbrüche der von Joe Pesci gespielten Figuren in "Goodfellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia" und in "Casino". Aber diese Szenen hatten nichts von Gewaltverherrlichung, sie versuchten auch nicht, diese Gewalt als Schauwert zu überhöhen. Distanzierung wurde zum Merkmal der Inszenierung.
Keiner hat daran größeren Anteil als Thelma Schoonmaker, die seit dem 1980 herausgebrachten "Raging Bull - Wie ein wilder Stier" alle Filme Scorsese geschnitten hat. Die Arbeit in Schneideraum: Bei diesen beiden zielt sie nicht auf Herstellung unmerklicher, verführerischer Kontinuität, sondern auf Brüche und Widerhaken. Gemeinsam fanden sie zur Montage der verstörendsten Fights der Filmgeschichte. Inszenierte Kämpfe ohne eine Spur jener Hamonisierung, die Sylvester Stallones "Rocky" vier Jahre zuvor zu einem großen Überraschungserfolg verhalf. Katja Nicodemus beschrieb in ihrem schönen Porträt über Thelma Schoonmaker Scorseses Szenen: In ihnen finden
„zerstörerische Gewalt, die Wut des von De Niro gespielten Underdogs und eine opernhafte Überhöhung durch verschiedenste Schnittformen zu einer genialischen Balance [...]. Etwa der Kampf Jake LaMotta gegen Sugar Ray Robinson. Die Zeit zwischen LaMottas Angriff und Robinsons K.O. wird in einer hoch elektrisierenden Sequenz erzählt, in der die von Scorsese später immer wieder verwendeten Stilmittel Hand in Hand gehen: grelle Blitzlichtschnitte, Zeitlupe, Zeitraffer und seine fast schon mythischen Standbilder: Wie eine Ikone der Gewalt gefriert Robert De Niro mit hochgereckten Fäusten, während Robinson, im Fall erstarrt, zwischen den Banden schwebt. Manche der Boxkämpfe schnitt Schoonmaker aus gerade mal vier Einstellungen zusammen, einer besteht nur aus einer einzigen, am Ende eingefrorenen Geraden.“
So etwas wie "Raging Bull" hatte das Publikum noch nicht gesehen. Und kein Film über Boxer versuchte später etwas Vergleichbares, auch nicht Clint Eastwoods "Million Dollar Baby". Nie zuvor war das Boxen in derart brutalen Details gezeigt worden. Das ganze Team, vor allem Scorsese, Schoonmaker, De Niro und der Kameramann Michael Chapman aber schienen einem gemeinsamen Ziel verpflichtet: die Story um Jake LaMotta so zu erzählen, dass die ästhetischen Mittel jede Romantisierung ausschlossen.
Spätere Filme Scorseses profitieren von der Lektion, die "Raging Bull" wurde. Die Lehren des unsichtbaren Schnitts, das Primat der Kontinuität der Erzählung, die Forderung nach der Unsichtbarkeit formaler Aspekte im Film galten Scorsese schon in seinen ersten Filmen wenig. Mit "Raging Bull" gab er solche stilistischen Regeln vollends auf. Scorseses Erzählweise ließ sich nie mehr ins Korsett des Klassischen zwängen. Sie folgte der aggressiven Qualität von "Raging Bull", den Scorsese nach dem Motto Alles oder Nichts inszeniert hatte.
„Ich habe alles, was ich wusste und empfand in diesen Film gesteckt und ich dachte, er wäre das Ende meiner Karriere. Es war, was man eine Kamikaze-Art, einen Film zu machen, nennen kann. Alles hineinbringen, es dann vergessen - und eine andere Art Leben suchen.“
"Raging Bull" erwies sich als der außergewöhnliche Film, der er werden sollte. Das Einspielergebniss - 23 Millionen Dollar bei Produktionskosten von ca. 18 Millionen - schloss mit einem moderaten Gewinn. Die Rechnung war aufgegangen, ästhetisch und finanziell. Scorseses Karriere unterlag in den nächsten 20 Jahren dennoch einem fast beispiellosen Auf und Ab. Katastrophale Misserfolge wie "King of Comedy" - mit Jerry Lewis, aber ohne Slapstickszene, ohne jeden Klamauk; mit Robert De Niro, doch bei gänzlicher Abwesenheit von Tempo und physischem Kino - und überraschende Hits wie "Die Farbe des Geldes" wechselten sich ab.
Halb schien der Regisseur Kassengift zu sein, halb hielt er das Versprechen auf gute Einspielergebnisse. Noch in den neunziger Jahren, die für ihn mit dem Hit "Goodfellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia" begannen, wurden "Zeit der Unschuld", "Kundun" und "Bringing out the Dead - Nächte der Erinnerung" halbe, ja sogar vollendete Desaster.
In dieser Zeit wurde der Rückgriff auf die Filmgeschichte ein Halt. Seine Passion stand auch bei manch riskanter Entscheidung Pate, etwa im Falle von "New York, New York". Doch hat sie ihm auch entscheidende Erfolge beschert. Er könne Fortsetzungen nicht leiden und Remakes auch nicht, hat er einmal gesagt. Gerade ihnen verdankt er jedoch spektakuläre Einspielergebnisse und letztlich seine Karriere. Zusammen mit den „Mafia‑Filmen“ "Goodfellas" und "Casino" brachten sie im Auf und Ab den Publikumserfolg, der den persönlicheren Projekten versagt blieb.
"Die Farbe des Geldes" knüpfte an den von Robert Rossen 1961 gedrehten schwarz/weiß Klassiker des B-Movies "Haie der Großstadt" an und präsentierte 25 Jahre später den gleichen Star: Paul Newman. "Kap der Angst", eine Art „Sequel” von J. Lee Thompsons "Ein Köder für die Bestie", wurde fast 30 Jahre nach dem Original zu Scorseses bis dahin größtem Kassenerfolg - das Ergebnis erreichte über 180 Millionen Dollar, bei Produktionskosten von ca. 35 Millionen. In ihm traten die Gegenspieler aus Thompsons Vorbild, Gregory Peck und Robert Mitchum, noch einmal in Gastrollen auf. Selbst der Oscar, den Scorsese 2006 für "Departed - Unter Feinden" erhielt, ging streng genommen an das Remake des Hongkong-Thrillers "Infernal Affairs" von Andrew Lau.
Doch auch hier blieb es die Form, die Sicherheiten aufkündigt. Von der Exposition an, in der er die in das jeweils feindliche Milieu eingeschleusten Figuren vorstellt, fordert Scorsese seine Zuschauer, ja, er verstört sie. Immer stärker wird im Laufe seiner Karriere spürbar, dass er die Idee, das Publikum müsse einen Film aus der Sicht eines allwissenden Betrachters genießen können, für medioker hält. Was er anstrebt, sind Filme, die zur Konfrontation, zur Auseinandersetzung zwingen.
Was Filmgeschichte für Scorsese bedeutet, warum er auf alte Titel, scheinbar ausgediente Muster zurückgriff, wurde dabei erstmals 1977 bei "New York, New York" deutlich. Dieser Film markiert seine Entscheidung, fortan mit großem Budget, mit Stars und aufwändigen Studiobauten, kurzum: mit und in der Industrie zu arbeiten. Er sollte aussehen wie ein Musical der vierziger, fünfziger Jahre und Scorseses Stilbewusstsein erreichte genau das; in den Siebzigern einen Film zu machen, der ausschaute, als wäre er mindestens 20 Jahre früher gedreht worden und sich auch so anhörte: die Musiknummern sind Re‑Kreationen des Sounds der Big Bands, der Jazzclubs, der Musical-Nummern der Vergangenheit.
Der Film wirkt wie der nostalgisch anmutende Versuch, einen Streifen über Musiker und im Stil eines Musicals zu drehen. Scorsese entschied sich, das ohnehin antirealistische Genre zu reanimieren, seine Künstlichkeit aber in den alten Formen zu bewahren. Grandios die Einstellung, mit der die Hauptfigur eingeführt wird: Inmitten der Siegesparade nach der Kapitulation Japans steht da einer im Hawaii‑Hemd auf der Straße und ein das Bild dominierender grüner Neonpfeil weist exakt auf ihn, der als kleine Gestalt verloren auf der Straße steht. Eine Exposition, welche die Tricks einer großen Studioproduktion imitiert und ironisch zitiert.
Scorsese streicht das Kulissenhafte der Bauten heraus, greift zu gemalten Hintergründen, wagt eine den Kitsch bewusst evozierende Farbgebung. Andererseits verlässt er sich auf den Darstellungsstil insbesondere Robert de Niros, mit seinen Improvisationen, einem hektisch getriebenen Spiel. Schiere Unverschämtheit und Redefluss seines talentierten, aber schwer erträglichen Johnny Doyle entwaffnen schließlich nicht nur die von ihm umworbene Francine Edwards - gespielt von Liza Minelli - sondern wirkt für den Zuschauer auch als Fremdkörper in einem Film, der sich der Mittel klassischer Musicals bedient - ohne doch selbst eines werden zu können.
Dieses Paradox wurde noch verschärft, als sich bei der Uraufführung der Misserfolg abzeichnete und der Verleih den Film um 20 Minuten kürzte. Damit entfielen auch die letzten Spuren der großen Musical-Nummer „Happy Endings“, die Francine in einer grandios den Stil opulenter Ausstattungsrevuen nachahmenden, zwanzigminütigen Film‑im-Film-Sequenz singt. So gelang Scorsese stilistisch eine Liebeserklärung an Hollywoods goldene Jahre, doch ließ die Handlung um ein sich aufreibendes Ehepaar Romantik und Tabus jener Epoche weit hinter sich.
Jahre später erst konnte er diesen Misserfolg überwinden: In einer ebenso verspielten wie raffiniert ironischen Auftragsarbeit für einen spanischen Sektproduzenten mit dem Titel "The Key to Riserva". Behauptet wird, es seien dreieinhalb Seiten eines Manuskriptes von Alfred Hitchcock aufgetaucht - zu einem Film, der nie gedreht wurde.
In einem wunderbaren Dialog mit dem vom Drehbuchautor Ted Griffin gespielten Interviewer präsentiert Scorsese ungerührt die Schwierigkeiten, drei Minuten eines nie gedrehten Hitchcock-Films à la Hitchcock zu drehen:
„Wir werden es machen, ja: Ich werde meinen eigenen Hitchcock-Film drehen. Aber er muss so aussehen, muss so sein wie der Film, den er damals gemacht hätte. Nur, dass wir ihn jetzt drehen. Aber auf die Art, wie er es damals gemacht hätte. Wenn er heute lebte und den Film jetzt drehen würde, dann würde er es heute so machen, als würde er es damals gemacht haben.
Also seinen Film – nicht meinen. Denn das könnte ich nicht. […]
Mein Ansatz? Ich werde es sicherlich nicht so angehen wie ich es als Ich selbst täte. Aber: Kann ich es so drehen wie Hitchcock? Ich denke nicht. Also: Als wer werde ich den Film dann drehen? Das ist die große Frage...“
Der Internet-Klassiker "The Key of Riserva" ist ein großer Spaß. Entspannt und ironisch reflektiert Scorsese seine Position als Filmemacher, imprägniert mit, fasziniert von Filmgeschichte. Diesen Werbefilm, der Szenen aus Hitchcocks "Der Mann, der zuviel wusste" nachstellt, sie mit Bernhard Herrmanns Musik zu einem anderen Film des Meisters, "Der unsichtbare Dritte", unterlegt und schließlich mit einer Hommage an "Die Vögel" endet - diesen Film aus dem Jahr 2007 hätte er vielleicht vor dem Oscar, den er für "Departed - Unter Feinden" erhielt, nicht drehen können. Denn die Frage, als wer er seine Filme dreht, sie ist der Kern der Kritik David Thomsons und auch des eigenen Selbstzweifels gewesen. Im Jahr 2000 sprach er darüber mit Mark Singer:
„Da ist eine andere Sache: Wie ich mich selbst und mein Werk letztlich einschätze? Was ich wahrscheinlich nie wissen werde, ist, ob ein Film wirklich gut ist oder nicht. Das einzige, was ich weiß ist, ob er ‚richtig‘ ist. Anders gesagt, ich weiß dann, dass ich den Film so gemacht habe, wie er gemacht werden sollte.“
Mit seinem Werk Teil der Filmgeschichte zu werden, das ist sein Traum. Scorsese, der ganz und gar nicht dem Modell des europäischen Autorenfilms folgt, der nicht in Anspruch nimmt, persönliche Filme zu drehen im gleichen Sinn, wie es in diesem ganz anders strukturierten System möglich war, hat seinen Weg in die Historie gefunden. Als definitiv amerikanischer Regisseur, dessen Eigenart in Genre- und Studioproduktionen aufgehoben ist. Ganz im Sinne der bewunderten Regie‑Professionals der goldenen Jahre Hollywoods will er nicht primär seine Geschichte erzählen.
Aber er will die Story als seine inszenieren. Im Kern versucht er, seinem Publikum Erfahrungen zu vermitteln, die ganz im Filmischen aufgehoben sind. Er sucht nach Wegen, Storys so zu erzählen, dass sie nicht mittels Film umgesetzt erscheinen, sondern als filmischer Ausdruck. Seine Filme sind nicht deswegen so artifiziell, weil ihnen keine „ernsthaften Erfahrungen“ zugrunde lägen. Vielmehr gilt: Ihre Konstruktion soll erscheinen, die Mittel der Inszenierung sollen nicht unsichtbar bleiben. Scorsese fordert ein Publikum, dass seine Filme so betrachtet, wie er selbst alle Filme sieht: als ein Element in der unendlich beziehungsreichen Filmgeschichte. In diesem Sinne kann man sagen: Fast immer sind seine Filme richtig.
Ohnehin sind in dieser Karriere Filme nicht Profession, sondern Alltag. Barbara Hershey, die in "Die letzte Versuchung Christi" die Maria Magdalena spielte, resümierte ihre Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Scorsese:
„Ich verstand, dass er sich auf diesen Film sein ganzes Leben vorbereitet hatte. Wer weiß schon, was Talent ist? Ich glaube nicht, dass Talent derart rar ist wie die Notwendigkeit, es zum Ausdruck zu bringen oder die Stärke, mit Ablehnungen umzugehen. Marty kann schlicht gar nicht anders, es gibt einfach nichts, was er mit seinem Leben sonst anstellen könnte.“
Filmgeschichte als Lebensinhalt. In gewisser Hinsicht stimmt das tatsächlich. Der passionierte Sammler hat Tausende Filmkopien zusammen getragen, die nun teils im Archiv des Museum of Modern Art, teils im George Eastman House in Rochester aufbewahrt werden. Einige der seltenen Kopien lieh Scorsese gelegentlich Filmfestivals aus, begleitet von Vertrauten, die prüften, ob Projektionsbedingungen und Arbeitsweise der Vorführer den notwendigen Standard und die erforderliche Sorgfalt zeigen.
Scorseses Passion heißt Filmgeschichte. Als Regisseur, als Sammler, als Zuschauer: Er sieht und stellt Filme in diesen Zusammenhang. Keiner von ihnen steht allein, jeder hat das Recht darauf, immer wieder neu gesehen werden zu können. Für Scorsese ist Filmgeschichte ein Kontinuum, das sich aus all den im Zuschauerraum akkumulierten Gefühlen, all den dort ausgelösten Reaktionen und Gedanken speist. So konnte er zu dem größten, dem überzeugendsten Interessenvertreter - nicht einfach des Films, wohl aber des Filmerbes werden. Als Lobbyist im Auftrag der Filmgeschichte ließe er sich vermutlich ebenso gerne bezeichnen wie als „hardcore Cinephilen“.
Schon Mitte der siebziger Jahre stellte er eklatante, der Industrie durchaus bekannte Mängel damaliger Farbfilmverfahren bloß. Das gebräuchliche Material der marktbeherrschenden Firmen wies drei sich unterschiedlich schnell zersetzende Farbschichten auf, die Filme endeten nach kurzer Zeit in der berüchtigten Rotstichigkeit. Eine ganze Periode der Filmgeschichte war in seiner künstlerischen Integrität bedroht und Scorsese forderte die Entwicklung neuer, farbstabiler Materialien. Seine Kampagne, von Steven Spielberg, George Lucas und Francis Ford Coppola, schließlich von weiteren namhaften Regisseuren unterstützt, zeigte Wirkung. Kodak, Fuji und andere nahmen die Entwicklung neuer Farbmaterialien auf und konnten bald verbesserte Ergebnisse vorweisen.
Für Scorsese war dies ein erster Schritt, die Initiative zur Restaurierung gefährdeter Filme folgte. Die 1990 von ihm gegründete Film Foundation warb - wieder von seinen Regisseursfreunden unterstützt - beträchtliche Mittel ein, um gemeinsam mit Archiven  Projekte auf den Weg zu bringen. 2007 folgte die Gründung der World Cinema Foundation, öffentlichkeitswirksam beim Filmfestival in Cannes verkündet. Diesmal gehörten unter anderem Abbas Kiarostami, Wong Kar-Wai, Wim Wenders und Fatih Akin zu den prominenten Mitstreitern.
Scorsese erweist sich als demütiger Diener seiner Passion. Die Filmgeschichte, von der er so viel empfing, hat in ihm den eloquentesten Promoter gefunden. Dass sein Werk in ihr einen hervorragenden Platz hat, ist sicher. Vielleicht ist auch der Selbstzweifel besänftigt. Jedenfalls drehte er mit "Hugo Cabret" seinen ersten veritablen Familienfilm - ein Scorsese‑Film, in den USA in Begleitung Erwachsener frei für jedes Kind, in Deutschland mit der FSK-Freigabe ab 6 Jahren versehen! Es wurde eine Hommage an die Anfänge seiner Kunst. In ihr wird der vergessene Pionier Georges Meliés durch die Neugier und Beharrlichkeit eines Jungen, unterstützt von einem filmenthusiastischen Historiker, aus der Vergessenheit geholt und wieder seiner Bedeutung entsprechend gefeiert.
Scorsese hat das seine dazu getan, Meister seiner Kunst zu würdigen und wieder zu entdecken. Durch Restaurierungen, denen Filmfestivals glanzvolle Präsentationen widmen, durch seine Dokumentarfilme zum italienischen und amerikanischen Kino, schließlich durch die eigenen Filme, die voller Bezüge auf andere Werke stecken und in denen es immer wieder Figuren wie den Dalai Lama gibt, der in "Kundun" dauerhaft Gefallen an den leicht flackernden bewegten Bildern findet. Filmgeschichte ist seine Passion. Sie wird ihn nie vergessen.