Henning Hübert: Wer auf YouTube nach alten Schwarz-Weiß-Filmen guckt oder zum Beispiel hören will, wie flott einst Richard Strauß in Bayreuth die Parsifal-Urinszenierung dirigierte, der wird schnell fündig. Digitalisiert und hochgeladen von irgendjemand. Gratis, doch, so scheint es – ohne System. Und am Ende fast immer mit Rechteproblemen. Am Beginn der Digitalisierung stehen ganz andere Probleme: Filmrollen altern und Abspielsysteme wie zum Beispiel UMATIC oder DAT sind nur noch was für Experten und Liebhaber.
Heute beraten sich Experten auf Einladung des Deutschen Kulturrats auf einem großen Symposium in Berlin, auf dem es um Sichtungs- und Rettungsstrategien geht. Für die Sektion Film, Rundfunk und audiovisuelle Medien spricht dort Thorolf Lipp. Er ist Dokumentarfilmer und Ethnologe. Der Titel des Kulturrrats-Symposiums lautet "Vergangenheit braucht Zukunft". Ich habe Thorolf Lipp gefragt, ob zurzeit die Devise in den Archiven lautet: Retten, was zu retten ist?
"Überall das Problem einer eklatanten Unterfinanzierung"
Thorolf Lipp: So alarmistisch, glaube ich, muss man es tatsächlich auch nicht betrachten. Wir haben Archive, wir haben das Bundesfilmarchiv, wir haben den Kinematheksverbund, wir haben eine ganze Reihe von kleineren Archiven, die im Prinzip alle eine fundierte und gute Arbeit machen. Aber - und das war heute der einhellige Tenor - wir haben einfach überall das Problem einer eklatanten Unterfinanzierung.
Denn wir haben ja heute nicht nur die Aufgabe in den Archiven, die alten analogen Bestände aufzubewahren und alle 100 Jahre, sage ich mal, umzukopieren, sondern es geht ja auch ganz stark um die Frage oder um die Aufgabe, diese Überlieferungen, die dort in den Archiven lagern und gespeichert sind, auch wieder ins Funktionsgedächtnis, wie man so sagt, zurückzuspielen, das heißt wieder verfügbar zu machen. Und da muss man einfach sehr, sehr viel Geld in die Hand nehmen, um diese Bestände zu digitalisieren und dadurch überhaupt wieder ins kulturelle Gedächtnis einspeisen zu können.
Hübert: Wenn Digitalisierung gesagt wird, dann schwingt auch immer ein wenig mit freie Zugänglichkeit. Das ist ja dann alles kinderleicht. Nehmen wir mal als Beispiel das Brecht-Archiv bei der Akademie der Künste in Berlin: 70 Kilometer Filmmaterial. Wenn die mal digitalisiert sind rund ums Thema Brecht und der Film, dann landen die doch, so die Planung im Augenblick, trotzdem nur im Lesesaal, diese Digitalisate. Oder planen Sie da doch Größeres, YouTube für alle öffentlich-rechtlich?
"Vergüten statt verbieten"
Lipp: Das kann ich jetzt fürs Brecht-Archiv selber nicht sagen. Richtig ist, dass man natürlich urheberrechtliche Schranken zu beachten hat, oder aber - und das wäre eigentlich im Sinne einer lebendigen Kulturnation der richtige Weg - vergüten statt verbieten. Es müsste eigentlich möglich sein oder es ist in unser aller Interesse, Zugang zu diesen Materialien haben zu können für die Kulturproduktion, für die Kunstproduktion, für neue Filme etc., und da stehen tatsächlich häufig urheberrechtliche Fragen zwischen diesem Wunsch und der eigentlichen Notwendigkeit. Da müssen wir, glaube ich, neue Wege gehen und gucken, dass es möglich wird, auch rechtssicher möglich wird, leichter möglich wird, Zugang zu solchen Materialien zu bekommen.
Hübert: Letztlich geht es ja auch ums Geld. Sponsoren Ihres Kulturrat-Symposiums sind ja auch die Rechteverwerter von der GEMA bis zur VG Bild-Kunst. Wie sieht es da eigentlich aus mit unserem kollektiven Gedächtnis? Brennt sich da was ein, was immer wieder auch gesendet, immer wieder wiederholt wird, und ist das, was wiederholt wird, gratis und das Teure wird nicht gesendet und gerät nicht in unser Gedächtnis?
"Ungleichzeitigkeit in einem Meer von Gleichzeitigkeit herstellen"
Lipp: Es geht bei der Diskussion, die wir heute haben, einerseits um organisatorisch-technische Fragen. Es geht um Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten und so. Es geht aber auch ganz grundsätzlich um die Frage, wozu die Vergangenheit eigentlich noch eine Zukunft braucht und warum es lohnend ist, Ungleichzeitigkeit in einem Meer von Gleichzeitigkeit herzustellen. Weil wir der Dynamik des kulturellen Prozesses eine Chance auf Reorientierung mit diesen Materialien geben wollen. Wir stellen fest, dass wir sehr, sehr viel Geld ausgeben in Deutschland.
Wenn man mal alle Mittel, die es für Medienproduktionen gibt, zusammenrechnet, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Filmförderung etc., sind es mehr als acht Milliarden Euro. Und den überwiegenden Großteil davon investieren wir in eine Selbstbespiegelung des Status quo. Ein verschwindend kleiner Teil, deutlich weniger als ein Prozent kommt den Archiven zugute und der Aufgabe, die auch darin besteht, diese Perspektiven der Vergangenheit heute wieder verfügbar und zugänglich zu machen. Da scheint uns allen, die wir hier an diesem Symposium teilnehmen, doch ein eklatantes Ungleichgewicht zu bestehen.
"Andere Perspektiven aufs Menschsein ans Licht holen"
Hübert: Löscht noch jemand? Darf noch vergessen werden?
Lipp: Ich kann mich erinnern, als ich 20 Jahre jünger war, da wurden immer noch zum Beispiel Miss Marple Filme oder alte tschechische Märchenfilme im Fernsehen gesehen. Da gab es noch Dick & Doof. Da ist man eigentlich noch bis in die 20er-Jahre mindestens auch im klassischen Theatermedium Fernsehen auf diese Überlieferungen gestoßen. Heute gibt es das fast überhaupt nicht mehr. Insofern glaube ich schon, dass die Analyse richtig ist, dass wir in einer Zeitschleife des ewig Aktuellen derzeit gefangen sind und dass es uns allen eigentlich guttun würde, andere Perspektiven aufs Menschsein - wir sind ja irgendwie auch in einer Krise; man sieht das an verschiedensten Parametern - wieder verstärkt auch ans Licht zu holen.
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