Was den Hauptangeklagten angeht, war die Sache schon Anfang 2018 klar. "Sie verdienen es nicht, jemals wieder das Gefängnis zu verlassen", sagte Richterin Rosemarie Aquilina, als sie den einstigen Mannschaftsarzt der amerikanischen Turn-Elite zu mehr als hundert Jahren Haft verurteilte.
Doch noch immer fehlen wichtige Mosaiksteine, um die Frage zu beantworten: Wer im Verband wusste von Larry Nassars Treiben? Wer half aktiv bei der Vertuschung? Und wer muss sich womöglich deshalb ebenfalls vor Gericht verantworten?
Aus den ersten Enthüllungen wurde eine Lawine
Trotz dieser diffusen Ausgangslage wagten sich die Regisseure Bonni Cohen und Jon Shenk an die Geschichte und schufen einen emotionalen Film. "Athlete A" hatte vor wenigen Tagen auf der Streaming-Plattform "Netflix" Premiere. Strukturiert wurde das Material als Nacherzählung der investigativen Recherchen von Reportern der Tageszeitung "Indianapolis Star". Die Artikel hatten den größten Anteil daran, dass der Fall ins Rollen kam.
Wenn auch beinahe zufällig, wie Tim Evans, einer der Journalisten, im letzten Jahr im Deutschlandfunk verriet: "Anfangs hatten wir keine Ahnung von Larry Nassar. Wir haben uns die generelle Vorgehensweise vom US-amerikanischen Turnverband angesehen – und das haben wir getan, weil USA Gymnastics wie wir in Indianapolis sitzt. Wir haben zunächst geschaut, wie sie agieren und wie sie mit ihren Trainern umgehen. Von Nassar wussten wir nichts, bis unsere erste Geschichte veröffentlicht wurde."
Aus den ersten Enthüllungen wurde ein Lawine mit so vielen Facetten und Details, dass sich die Filmemacher im Schwerpunkt vor allem mit einem Fall beschäftigten. Den von Maggie Nichols. Sie wurde als erstes offiziell erfasstes Opfer von den Ermittlungsbehörden in deren Akten anonym als "Athlete A" geführt.
Nichols beschreibt die erste Episode 2015, die sich im Leistungszentrum des Trainerehepaars Károlyi abspielte, so: "Es passierte in dem Zimmer, in dem wir Massagen bekamen. Ich war verunsichert. Es schien nicht normal zu sein."
Die einstigen Entscheidungsträger hüllen sich in Schweigen
Sie sprach mit ihrer Mannschaftskollegin Alexandra Raisman über die sogenannte Behandlung, bei der sich Nassar sexuell mit seinen Fingern an ihr vergangen hatte. Und Raisman verriet Nichols, dass sie so etwas ebenfalls erlebt hatte.
Eine Trainerin bekam die Unterhaltung zwischen den beiden zufällig mit und meldete dem Verband die Anschuldigung. Es passierte jedoch etwas völlig Unerwartetes. Nichols, in London 2012 und bei der WM 2015 in Glasgow Mitglied des amerikanischen Gold-Teams, wurde trotz guter Leistungen nicht für die Olympischen Spiele von Rio nominiert.
Der Film vermag nicht aufzuklären, wer die Karriere der damals 16-Jährigen ruinierte. Denn seit der Fall Nassar an die Öffentlichkeit kam, hüllen sich die Entscheidungsträger von einst in Schweigen. Darunter der damalige Verbandspräsident Steve Penny, gegen den ein Strafverfahren wegen Unterschlagung von Beweismitteln läuft.
Seit dem Prozess sind neue Funktionäre im Amt. Aber die scheinen auch nicht wirklich an Aufklärung interessiert. Die Verhandlungen um eine Schadenersatzvereinbarung kommen nicht voran. Was noch dadurch erschwert wird, dass der Turnverband aufgrund der Schadenersatzforderungen der Opfer Konkurs anmelden musste. Im Rahmen des Insolvenzverfahrens versucht USA Gymnastics nun im Gegenzug für eine Summe von insgesamt 217 Millionen Dollar den mehr als 500 betroffenen Turnerinnen eine Zusicherung abzuhandeln, Sie sollen auf etwaige Zivilklagen gegenüber Funktionären und Trainern verzichten.
"Die Richterin hat die Nase voll"
Die Konkursrichterin schien beim letzten Prozesstermin unlängst die Geduld zu verlieren und ordnete an, dass der Verband und das Nationale Olympische Komitee als der Partner im Hintergrund in den kommenden Wochen ein seriöses Angebot unterbreiten.
Scott Reid, investigativer Reporter der kalifornischen Zeitung Orange County Register berichtet seit Jahren über das Thema Missbrauch im Sport. Er verfolgt auch diesen Teil der Entwicklung intensiv. Er sagte gegenüber dem Deutschlandfunk über Richterin Moberly:
"Sie hat die Nase voll. Die Schadenersatzklage wurde im Dezember 2018 eingereicht. Aber der Verband und das Nationale Olympische Komitee verfolgen dieselbe Taktik wie die Katholische Kirche, als sie wegen sexuellem Missbrauch von Priestern verklagt wurde. Einige Anwälte der Sportverbände haben damals auch die Kirche vertreten."
Doch diese Taktik dürfte nicht aufgehen. Scott Reid:
"Sicher, sie benötigen das Geld für psychotherapeutische Behandlung. Und das vermutlich für den Rest des Lebens. Aber das Wichtigste ist ihnen, die Vertuschung aufzudecken. Sie wollen Namen und Daten."
So gut der Film "Athlete A" auch ist. Solche Informationen liefert er nicht. Auf die ganze Wahrheit müssen wir noch eine Weile warten.