Ein Reh läuft durch den Wald. Vorsichtig. War da ein Geräusch? Dann sehen wir in dieser ersten Szene von "Captain Fantastic" hinter dem dichten Blättervorhang zwei Menschenaugen. Der junge Mann schießt hervor, umklammert das Reh und erlegt es mit einem Messer. Eine Initiation zum Mann. Und ein Kinobild, das an die Hirschjagd am Anfang von Michael Manns "Der letzte Mohikaner" erinnert, der Verfilmung des Klassikers von James Fenimore Cooper.
Den Widerspruch zwischen dem Leben in der Zivilisation und dem eigentlichen, wirklichen Leben in der Natur, diesen Urkonflikt diskutierte schon im 18. Jahrhundert James Fenimore Cooper in seinen "Lederstrumpf"-Erzählungen wie auch Henry David Thoreau in "Walden oder Leben in den Wäldern". Der von Viggo Mortensen in "Captain Fantastic" gespielte Aussteiger Ben ist also eine Figur mit tiefen Wurzeln hinein in die amerikanische Kultur und Mythologie.
Leben in der Einsamkeit
Ben, hochgebildet, lebt mit seinen sechs Kindern in der Einsamkeit der Berge im Nordwesten Amerikas. Er bringt ihnen alles bei, Quantentheorie, klassische Literatur und Philosophie und die Liebe zu Bach, den Goldberg-Variationen, aber auch die Kunst, mit dem Messer Wild zu erlegen. Von Anfang an ist die Stimmung von "Captain Fantastic" auch traurig, melancholisch.
Denn die Mutter der Kinder, Bens Frau, ist nicht da. Sie liegt im Krankenhaus. Dann bringt sie sich um. Ben und die Kinder sind gezwungen, ihren selbstgeschaffenen Lebensraum mitten in der Wildnis zu verlassen und der anderen Welt quasi entgegen zu treten. Was komisch ist im Film, berührend, absurd, aber immer zur Frage führt, wie sehr die Ideale der Freiheit der Konfrontation mit der "normalen" Welt standhalten.
"Was habt ihr? - Was ist los mit denen? - Was meint ihr? - Alle sind so fett."
Der Cultural Clash ist vorprogrammiert. Bens Tochter fragt die Tante:
"Wie schlachtest du die Hühner? - Ich musste diese Hühner nicht schlachten. Man kann diese Brathähnchen so kaufen. Die sind dann schon tot. Oder gegrillt auf so einem Ding."
"Captain Fantastic" ist ein wunderbar gespielter Film. Ben - Viggo Mortensen als Aussteiger - und Jack, sein Schwiegervater, ein knallharter Geschäftsmann - gespielt von Frank Langella -, sie sind überzeugende Antipoden.
"Das ist Misshandlung. Selbst, wenn sie das überleben sollten, was du ihnen antust, sind sie völlig unvorbereitet auf das echte Leben. - Und ich glaube nun mal, dass das Gegenteil stimmt."
Von Utopie und Krise
Aber wunderbar ist "Captain Fantastic" vor allem, weil Regisseur Matt Ross die Utopie, die Ben mit seinen Kindern lebt und die im Verlauf des Films in eine Krise gerät, nie der Lächerlichkeit preisgibt. Dabei sind auch die Sorgen des vermögenden Großvaters um seine Enkel als Motiv ehrenwert. Und der Mann stellt berechtigte Fragen: Woher Ben denn die Legitimation nehme, seinen Kindern den eigenen Traum aufzudrücken? Auch Bens ältester Sohn Bo protestiert:
"Du hast aus uns Freaks gemacht. Ich weiß doch alles nur aus den Scheiß-Büchern."
Das letzte Bild von "Captain Fantastic - Einmal Wildnis und zurück" entscheidet nicht, was der richtige Weg ist - Auflehnung oder Anpassung, Aussteigen oder Mitmischen -, sondern bietet schließlich ein nachdenkliches, versöhnliches Bild. Bens Familie ist inzwischen auf einen Bauernhof gezogen, die Kinder gehen in eine reguläre Schule. Frühstück, dann haben alle noch ein wenig Zeit, bis der Bus kommt. Und sie lesen in Büchern.
Dieses wunderschöne, harmonische Bild bleibt, ohne, dass gesprochen wird, es wird gelesen; dieses Bild bleibt und bleibt stehen. Dass in Bens Traum von der Freiheit viele Dissonanzen gibt, dass der Widerspruch zwischen Zivilisation und Natur - James Fenimore Cooper, Henry David Thoreau - nicht aufzulösen ist, das hat uns Matt Ross in "Captain Fantastic" vor diesem Schlussbild auf grandiose Weise erzählt.