Die Geschichte ist ganz einfach.
"Ich habe das Haus mit meinen eigenen Händen gebaut."
Die Geschichte bleibt auch ganz einfach, sie endet auch so, wie man es von Anfang an ahnt, aber diese universelle Geschichte bekommt in "Leviathan" eine Düsternis - und so ist das mit düsteren Filmen im Kino - und dadurch eine ganz besondere Schönheit. Schrecken und Schönheit reichen sich die Hand.
"Der will das Grundstück für sich haben. Verstehst du? Um sich darauf seinen eigenen Palast zu bauen. Jawohl."
Die einfache Geschichte: Ein Böser will vom Guten dessen Haus. Ein Mächtiger, korrupt, brutal, rücksichtslos, will von dem einfachen Mann dessen Hab und Gut. Und er wird es bekommen, weil Andrey Zvyagintsev nicht den Schimmer eines Zweifels aufkommen lässt, dass die Welt, in der sich der Niedergang des kleinen Mannes mit unabänderlicher Logik vollziehen wird, so ist. So böse, so abgründig ist.
Einmal geht der Sohn des Mannes an das Meer. "Leviathan" zeigt das Gerippe eines gestrandeten Wales. Das hat die Wucht eines biblischen Bildes. "Leviathan", das ist das mythologische, allmächtige Seeungeheuer aus der Bibel, mächtiger als jeder Mensch. Und der Staat ist in der Sicht des Staatstheoretikers Thomas Hobbes in seiner Schrift "Leviathan" - geschrieben Ende des 17. Jahrhunderts -, auch so mächtig, dass er die Menschen in seine Ordnung zwingen kann. Nur darüber stellt sich Gerechtigkeit her, nur so werden die barbarischen Kräfte des Menschen gezügelt. Doch das Gerippe des Wals in Andrey Zvyagintsevs Film ist auch das Bild des gescheiterten russischen Leviathan. Das staatliche Gebilde ist keine Ordnung, die klein wie groß schützt, zur Not auch den Kleinen gegen den Großen. Nein, das Russland, das dieser Film zeichnet, ist eine Gesellschaft, in der der Mensch dem Menschen wieder zum Wolf geworden ist.
"Was kriegst du, Kolja?"
"Wodka, was sonst."
Es wird unendlich viel gesoffen im Film. Ist das ein Klischee? Das des saufenden Russen? Oder ist es nicht vielmehr noch eine Steigerung der düsteren Gesellschaftsdiagnose von Andrey Zvyagintsev, das der kleine Mann seine Verzweiflung im Wodka ersäuft.
"Ich gebe alles für einen Spottpreis weg."
Insofern erträgt Kolja sein Leid nicht stolz und gottergeben. Weil er so seine Erfahrung mit der Kirche hat.
"Die Wahrheit ist das, was die Wirklichkeit widerspiegelt, ohne sie zu verzerren. Doch die Wahrheit kann nur derjenige besitzen, der auch den Glauben besitzt."
Oder, wie in "Leviathan", die Macht und die nur zum eigenen Vorteil nutzt. Solche Religion, besser Religionsausübung, wie der Film sie zeigt, ist in der Tag, gemäß des alten Satzes von Marx, "Opium des Volkes". Sedierung, um wahre Interessen zu verschleiern. Kolja, dem alles genommen wird vom Bürgermeister und dessen Freunden in der Kirche, der Politik und im Organisierten Verbrechen, da, wo der Bürgermeister die Quelle seiner Macht hat, Kolja ist kein Held.
"Abführen und einsperren. Führt ihn ab und sperrt ihn in eine von den Zellen."
Die staatliche Ordnung als Schimäre
Es ist ein düsteres Bild über das zeitgenössische Russland. Nicht nur im übertragenen, sondern auch visuellen Sinn ist dieses Bild dunkel, mit seltenen Übergängen ins Helle. Die Ordnung ist eine Schimäre, der Leviathan nur noch ein Gerippe. Als die Richterin die abgewiesene Klage Koljas herunterliest, ist allein diese Litanei schon Ausdruck des Zynismus der Macht. Und auch der Pope, der orthodox christliche Patriarch, brabbelt wortgewaltig Leerheit.
"Sei unbesorgt. Alle Macht kommt von Gott. Und solange es dem Herrn beliebt, musst du dir um nichts Sorgen machen."
"Wer garantiert mir, dass es ihm beliebt? Bloß sein Diener."
"Es beliebt ihm, es beliebt ihm."
Staat, Wirtschaft und Kirche sind im zeitgenössischen Russland Putins eine unheilige Ehe eingegangen, sie teilen sich die Macht, sie schieben sich Posten zu.
"Die Kirche kann sich wohl kaum beschweren."
"Ich weiß, ich weiß. Du spendest mehr als sonst wer."
"Probier mal den Fisch."
Es ist eine kafkaeske Welt, in der der einfache Mann wie der Landvermesser K. vorm Schloss steht und nicht hinein kommt. Wie sagt Kolja, als ihm am Ende gar vorgeworfen wird, seine Frau ermordet zu haben.
"Haben Sie alles verstanden?
(Kolja weinend, schluchzend) "Nein, ich verstehe überhaupt nichts mehr."
Nein, er hat nichts verstanden. Gar nichts. Verstehen können wir allerdings dieses: Wer Filmkunst als Vehikel für Patriotismus und unverbrüchliche Liebe zu Mütterchen Russland funktionalisieren möchte, für den ist "Leviathan" natürlich heftiger Stein des heftigen Anstoßes. Die rigide Form der Auseinandersetzung im Russland der Putin-Ära hat unheilvolle Ausmaße erreicht. Wenn beispielsweise seine Gegner von der "ungesunden Wirkung" des Films sprechen oder davon, dass "Russland öffentlich ins Gesicht gespuckt werde". Erinnerungen an die Stalin-Ära werden wach.
Es wird nach dem hier wohl keiner davon ausgehen, das Filmemacher Andrey Zvyagintsev seiner Figur Kolja ein Happy End gönnt. Und auch die unfassbare Schönheit dieser Landschaft in Murmansk an der Barentssee - sie tröstet nicht wirklich. Doch all das muss man im Kino, ob Russe oder Westler, aushalten, wenn man denn mal große, zeitlose, universelle Geschichten geschenkt bekommt.