"Seefeuer" beginnt mit Schrifttafeln auf schwarzem Hintergrund. "Die Insel Lampedusa", ist zu lesen, "liegt 70 Meilen vor der Küste Afrikas, 120 Meilen vor der Küste Siziliens. In den letzten 20 Jahren sind circa 400.000 Migranten auf Lampedusa gelandet. Dabei starben schätzungsweise 15.000 Personen." Dann - im Film - das erste Bild. Der zwölfjährige Fischersohn auf der Suche nach dem richtigen Holz für eine Steinschleuder. Samuele, dem auf dem Boot seines Vaters immer schlecht wird, Tante Maria, der Arzt. Das ist die eine Welt, der wir in "Seefeuer" folgen, die von Samuele, Tante Maria, dem Inselarzt.
Die andere Welt, die Gianfranco Rosi - ein Jahr brachte er auf Lampedusa zu - aufzeichnet, das ist die Welt der Migranten, das ist die Arbeit der Küstenwache, die Notrufen nachgeht. Hubschrauber über dem Mittelmeer. Schiffe, die Flüchtlinge, die auf ihren Schrottkähnen in Seenot geraten sind, suchen. Szenen, wenn afrikanische Männer - ihre Kleider mit Diesel und Seewasser durchtränkt, einige dehydriert, nicht klar, ob sie überleben werden -, wenn diese Menschen auf das rettende Schiff gezogen werden. Dann später das Bild des Inneren eines anderen Rettungsschiffes, am Boden dicht gedrängt: Leichen von Flüchtlingen.
Nächtliche Albträume
Insulaner und Migranten auf Lampedusa. Zwei Parallelwelten. Die eine hat mit der anderen in der Doku "Seefeuer" so gut wie nichts zu tun. Nur in wenigen Momenten berühren sie sich. Wenn beispielsweise Inselarzt Pietro Bartolo, der sowohl die Inselbewohner wie die Flüchtlinge behandelt, von seinen nächtlichen Albträumen erzählt, wenn er an all die Toten denkt, wenn er davon redet, dass man diesen Menschen doch helfen muss, wenn er auf das Bild des 14-, 15-jährigen Jungen zeigt, der durch Benzin schlimmste Verätzungen erlitten hat. Wenn er von der Frau erzählt, die entbunden hat, während sie ertrank. Jeder, der von sich denkt, ein Mensch zu sein, muss diesen Menschen helfen, sagt der Mediziner mit den Albträumen. Und sagt dann noch: Was hier passiert erzeugt eine Wut, ein Loch im Bauch.
Auch wenn der Monolog des Arztes von großer Eindringlichkeit und Wucht ist, bekommt man in "Seefeuer" aber eben nicht das Gefühl, dass die anderen Bewohner von Lampedusa von dem Schicksal der Migranten irgendwie berührt wären. Gianfranco Rosi zeigt die Abwicklung der Flüchtlinge durch die Behörden, das Erfassen, das Abtasten. Einmal hören wir eine Art Sprechgesang eines Flüchtlings über seine leidvolle Flucht. Doch Insulaner und Migranten begegnen sich nicht. Das ist die politische Botschaft von "Seefeuer". Und dass Samuele, der Fischersohn, Probleme mit den Augen hat, mit dem Schauen, das kommt an als Metapher.
"Eindrucksvolle Berührungen"
Immer wieder sehen wir bei Gianfranco Rosi auch den Moderator der lokalen Radiostation, der für die Insulaner Wunschsongs spielt. In "Lampedusa im Winter" von Jakob Brossmann taucht das gleiche Radio-Studio auf, das gleiche Equipment, allerdings mit einem anderen Moderator, einer, der unter wummernden Beats die aktuellen Insel-News unter sein "Hörer-Volk" bringt. Jakob Brossmanns Film war im November letzten Jahres faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit nur in wenigen Kinos zu sehen, jetzt kommt die Doku als DVD heraus.
Wie "Seefeuer" erzählt "Lampedusa im Winter" in einer Parallelmontage von Migranten und Insulanern. Zeigt das Leben der Fischer von Lampedusa, ihre Wut wegen der Inselfähre, die nicht so regelmäßig fährt, dass sie ihren Fang vermarkten können. Doch in Jakob Brossmanns Lampedusa-Film wirkt die Welt der Flüchtlinge nicht so getrennt vom Leben der Insulaner wie bei Gianfranco Rosi. In "Lampedusa im Winter" gibt es eindrucksvolle Berührungen. Da ist die Frau beispielsweise, die die Migranten bei ihrem Streik vor der Kirche aufsucht. Es gibt eine Versammlung von Migranten, Bewohnern und den Behörden. Wir sehen die Betreiber eines privaten Museums, die die Habseligkeiten der Ertrunkenen ausstellen und ihre vom Meerwasser verschwommenen Notizen archivieren. Im Gegensatz zu "Seefeuer" erscheinen die Inselbewohner in "Lampedusa im Winter" bewegt davon, was mit den Fremden auf ihrem Eiland geschieht. Was stimmt? Was entspricht der Realität. Zwei Blicke zweier Filmemacher, die aber am Ende auf das Gleiche hinauslaufen. Was die humanitäre Botschaft ihrer Filme betrifft.
Es geht um die Menschen
Beide Dokumentationen "Seefeuer" und "Lampedusa im Winter" nämlich zeichnen ein politisches Desaster in kaum zu ertragender Intensität auf. Hier geht es nicht um eine "Flüchtlingswelle", sondern um Menschen, die es über das Mittelmeer schaffen oder ertrinken. Und sie bekommen in diesen Filmen ein Gesicht. Filmemacher Jakob Brossmann sieht die eigentlichen Gefahren für Europa denn auch nicht bei den Flüchtlingen, sondern darin, dass Peripherien wie Lampedusa sich selbst überlassen werden angesichts einer, wie der Filmpublizist Daniel Kothenschulte geschrieben hat, angesichts einer "Menschheits-Katastrophe".