"Also, für die, die es noch nicht wissen: Ich heiße Madame Gueguen."
Sie ist einen Kopf kleiner als die meisten ihrer Schüler, trägt die rotbraunen Haare im adrett frisierten Pagenschnitt, dazu farblich abgestimmt die Brille. Sie sieht aus wie eine Lehrerin aus dem Bilderbuch.
"Und ich habe nicht vor, Euch mit schlechter Laune zu traktieren, denn das liegt mir überhaupt nicht."
Ihre Sache ist es, mit durchdringender Stimme für Ordnung zu sorgen: Mütze vom Kopf, Kaugummi raus, keine rassistischen Witze! Streng und gerecht ist Madame Anne, von natürlicher Autorität und versiert darin, in jedem Moment das passende pädagogische Register zu ziehen. Dazu gehört es auch schon mal, persönlich zu werden.
"Ich hab bei Euch das Gefühl, ich steh vor Leuten, die nur so tun, als ob sie mir zuhören. Ich steh wirklich hier. Könnt Ihr mich sehen? Hört und seht Ihr mich, ja?"
Gesehen und gehört werden - das nimmt Anne Gueguen nicht nur für sich in Anspruch. Sie scheint die Einzige im Lehrerkollegium des Lycée Léon Blum zu sein, die weiß, dass auch die Schüler gehört und gesehen werden wollen.
Madame Anne traut ihrer multikulturellen und - religiösen Schülerschar mehr zu als die sich selbst. Sie schlägt der Klasse vor, an einem nationalen Wettbewerb teilzunehmen.
"Es geht darin um die Frage des französischen Widerstands und der Deportation. Was für's Ding? - Jedes Jahr nehmen etwa 50.000 Schüler an diesem Studienwettbewerb teil. Eher was für Intellektuellos, was? Sei doch erst mal ruhig, hör doch erst mal zu! Es geht um die Kinder und Jugendlichen, die Opfer in den Lagern der Nazis gewesen sind! Haben Sie nicht was Geileres am Start?"
Echtes Interesse und wahres Mitgefühl
Nein, etwas Geileres hat Madame Anne nicht am Start. Sie zieht die Sache durch, auch wenn zu Beginn nur die beiden Außenseiter mitmachen wollen. Es kommt aber wie es kommen muss: Aus anfänglicher Skepsis wird echtes Interesse wird wahres Mitgefühl. Nur einer stellt sich quer: Olivier, der erst vor Kurzem zum Islam konvertiert ist. Doch all die anderen - sie stehen schon bald ergriffen vor den Schautafeln im "Mémorial de la Shoa", der zentralen Holocaust-Gedenkstätte in Paris, sie recherchieren im Internet und lesen die Lebenserinnerungen der Auschwitz-Überlebenden und späteren Europapolitikerin Simone Veil, bevor sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle niederschreiben.
Höhepunkt der Betroffenheit ist aber der Besuch des Holocaust-Überlebenden Léon Zyguel.
Er spielt sich selbst, so wie der Schauspieler Ahmed Dramé – im Film heißt er Malik. Er hat tatsächlich vor einigen Jahren mit seinen Klassenkameraden an dem Wettbewerb teilgenommen, dazu überredet worden war er von der echten Madame Anne. Ahmed Dramé hat seine Erinnerungen aufgeschrieben und auf deren Grundlage mit der Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar das Drehbuch verfasst. Herausgekommen ist die Erzählung einer rasend schnellen Wandlung: Aus kampfeslustigen Pubertierenden werden durch die Beschäftigung mit dem Holocaust vernünftige, mitfühlende und mit einem Mal redegewandte Jugendliche. Wer oder was aber hat diese wundersame Veränderung ausgelöst? Die kluge Madame Anne? Die Wucht der historischen Wahrheit? Der Zuschauer erfährt es nicht.
Gefühlsduseliger Soundtrack
Dass im Laufe des Films so manch ein Klischee gestreift wird, dass der gefühlsduselige Soundtrack nicht nötig gewesen wäre - all das ist zu verzeihen.
Doch so viel Madame Anne ihren Schülern zutraut, so wenig Vertrauen hat der Film in die gedankliche Eigenleistung seiner Zuschauer: Nichts wird nicht schon auf der Leinwand kommentiert.
Jedes Schlucken, jede Träne der Schüler beim Vortrag von Léon Zyguel wird gezeigt; jedes noch so heimliche Lächeln der Lehrerin, wenn ihre Schüler überraschend kluge Antworten geben. Und dadurch fällt die Komplexität dieser im Kern doch eigentlich berührenden Geschichte in sich zusammen. Das kann auch das überzeugende Spiel von Ariane Ascaride als engagierte Lehrerin nicht retten.
Der pädagogische Zeigefinger ist überlebensgroß: Verständnis füreinander und Achtung voreinander – so wird gepredigt – hilft, alle kulturellen und religiösen Grenzen zu überwinden. Und wenn am Ende im Beisein des Bildungsministers die Urkunde vergeben wird – man ahnt es schon, es ist der 1. Preis – dann wünscht man sich François Bégaudeau herbei, den Lehrer aus Laurent Cantets Film "Die Klasse", 2008 in Cannes ausgezeichnet mit der Goldenen Palme.
Gemessen an Cantets realistischer Darstellung einer französischen Schulklasse im 21. Jahrhundert, ist "Madame Anne und ihre Schüler" leider nur ein gut gemeinter "Feel-Good-Movie".