Bluessänger, singt 1965 vom Rassismus in Alabama.
Frühjahr 1965, als der frisch gebackene Friedensnobelpreisträger Dr. Martin Luther King, damals gerade 36 Jahre alt, Anführer der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in den Ort Selma in Alabama kommt, "Es ist ein guter Ort zum Sterben."
Um in gewaltfreien Protestmärschen für das uneingeschränkte Wahlrecht für die Afroamerikaner zu kämpfen. Formal gab es das seit 1870, doch faktisch wurde es für die Schwarzen immer wieder ausgehebelt. Eine Frau - am Anfang von Ava DuVernays Film - will sich in die Wählerliste eintragen lassen:
"Bin gespannt, was der Alte dann sagt, wenn ich ihm erzähle, dass eines seiner Mädchen hier Ärger macht. - Mache ich nicht, ich möchte mich nur in die Wählerliste eintragen lassen. - Sagen Sie die Präambel der Verfassung auf. - Wir, das Volk, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen. - Wie viel Amtsrichter gibt es in Alabama. - Es sind 67. - Und ihr Namen. - Abgelehnt."
"Selma" erzählt von der Kampagne der Bürgerrechtler, erzählt vom 7. März 1965, als im amerikanischen Fernsehen die Ausstrahlung von Stanley Kramers "Das Urteil von Nürnberg" unterbrochen wurde von Live-Bildern aus Alabama. Die zeigten, wie die örtlichen weißen Sicherheitsbehörden die schwarzen Teilnehmer des Marsches von Selma nach Montgomery krankenhausreif schlagen. Dieser Blutzoll aber bildete den Wendepunkt im Kampf um die Bürgerrechte.
Kampagne der Bürgerrechtler
Ava DuVernay erzählt spannend, dramatisch, mit großer Intensität, aber vor allem gelingt ihr das Kunststück, Martin Luther King, die Ikone, quasi zurückzuholen in die komplexe Realität des politischen Anführers, der immer wieder von Verzweiflung, Aussichtslosigkeit, Ermüdung, Ermattung und der Lust auf andere Frauen als seiner Gattin gequält wird. Martin Luther King - gespielt vom britischen Schauspieler David Oyelowo - ist begnadeter Redner, Visionär, aber auch Pragmatiker.
Komplexität des politischen Prozesses
Den Ort Selma wählen er und seine Mit-Aktivisten aus, weil der Polizei-Chef der örtlichen Sicherheitsbehörden ein brutaler Rassist ist. Martin Luther King war klar - sagt uns dieser Film -, dass gewalttätige Fernseh- und Zeitungsbilder ein enormes Gewicht entwickeln. Für diese Komplexität des politischen Prozesses findet die afroamerikanische Filmemacherin eindrucksvolle Bilder. Übrigens durfte sie aus Urheberrechtsgründen keine direkten Worte aus Kings Reden zitieren. Auch das Erbe des großen Martin Luther King ist also in der Verwertungsmaschine gelandet.
Mit den handelsüblichen Heldengesängen eines Biopics aber hat "Selma" nichts zu tun. Hier wird kein Leben durchgehechelt wie zuletzt bei "Mandela - Der lange Weg zur Freiheit". Ava DuVernay konzentriert sich ganz auf das Umfeld der Protestmärsche von Selma. So wird aus der Zeichnung des Baumes das Bild des gesamten Waldes. Und das mit erstaunlich wenig Pathos getränkt. Dass die Bilder über die Brutalität des rassistischen Amerikas allerdings emotional extrem aufwühlend sind, liegt in der Natur der Sache. Pastor King kommt zum Vater eines ermordeten schwarzen Jungen:
"Es gibt keine Worte, sie zu trösten, aber eines kann ich Ihnen versichern: Gott hat als Erster geweint. Er hat als Erster um Ihren Jungen geweint. - Ja, das glaube ich."
Ava DuVernays Film ist erstaunlicherweise rund 50 Jahre nach dessen Ermordung der erste Spielfilm, in dem Martin Luther King im Mittelpunkt steht. Erstaunlich. Oder auch nicht.
Martin Luther King im Mittelpunkt
Und so könnte uns Kinogänger dieser große Film "Selma" könnte vollkommen glücklich machen: Eine bewegende, großartig gespielte und erzählte Geschichte. Wer liebt keine historischen Dramen? Doch was "Selma" verhandelt, ist nach 50 Jahren beileibe nicht erledigt. Gerade in den letzten Monaten wurde sie weitererzählt, die "Selma"-Geschichte, mit den Namen von Michael Brown, Eric Garner, Trayvon Martin und Tamir Rice, durch weiße Polizeigewalt gestorbene Afroamerikaner.
Und auch, wenn wir das nicht wollen, drängen sich diese aktuellen Ereignisse hinein in die Fiktion des historischen Spielfilms. Die eigentliche Kraft von Ava DuVernays "Selma" liegt darin, dass das Historische und Aktuelle, Vergangenheit und das Nichtvergangene des Jahres 1965 hier miteinander kommunizieren; indem das eine erzählt wird, ist das andere immer gegenwärtig.
"Selma" ist Erinnerung an die Bürgerrechtsbewegung, für die Afroamerikaner historische Vergewisserung, aber eine, die uns traurig zurücklässt. Dass "Selma" entstanden ist, ist die gute Nachricht. Dass 2015 nicht 1965 ist, die Binsenweisheit. Immerhin "black man" Obama. Aber der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem der Rassismus weiter kriecht. In J. B. Lenoirs Blues von 1965 aus dem Soundtrack von "Selma" verdichtet sich immer noch Realität.
"My brother was taken up for my mother, and a police officer shot him down. / I can't help but to sit down and cry sometime, / think about how my poor brother lost his life"