Auf den ersten Blick ist Bernadette ein ganz normales Mädchen: Sie trägt rosafarbene Einhorn-Socken, läuft gerne Schlittschuh und besteht darauf, Benni genannt zu werden, denn Bernadette findet sie "tussig".
Von Normalität aber kann bei Benni nicht die Rede sein: Ihr Körper ist übersät mit blauen Flecken und schorfigen Wunden. Denn wenn Benni – wie sie es nennt – "auszickt", wird sie zu einer Gefahr für sich selbst und für andere.
Benni entwickelt überbordende Kräfte und Aggressionen, schleudert Bobbycars durch die Luft, schlägt andere Kinder blutig und bedroht ihre Wohngruppe mit einem Messer. Nichts und niemand ist vor ihr sicher. Dabei will Benni nur eins: ein ganz normales Mädchen sein, das zu Hause wohnen darf.
Doch Benni sprengt jedes System, das die Gesellschaft für ein neunjähriges Kind vorsieht: Keine Schule, keine Pflegefamilie, keine Wohngemeinschaft hält es lange mit ihr aus. Und ihre labile und hoffnungslos überforderte Mutter schon gar nicht. Sie gibt zu, manchmal richtig Angst vor ihrem eigenen Kind zu haben.
Ratlose Sozialarbeiter und Lehrerinnen
Im Pädagogikjargon nennt man solche Kinder "Systemsprenger": Betreuer und Erzieherinnen, Sozialarbeiter und Lehrerinnen verzweifeln an ihnen.
"Ich hasse Euch! Ihr seid behindert!" – "Die geht mir so auf den Sack!"
Filmemacherin Nora Fingscheidt hat mehrere Jahre lang für ihren Debüt-Spielfilm recherchiert: Sie hat in verschiedenen Sozialeinrichtungen hospitiert. Die Figur der Benni, die Helena Zengel überragend eindrucksvoll spielt, sie ist eine Art "Systemsprenger-Prototyp". Als Kleinkind traumatisiert, widersetzt sie sich jeder Autorität und jeder Erwartung.
Ihren Respekt verdient sich nur, wer der hochintelligenten und entsprechend manipulativen Benni auf Augenhöhe begegnet: Ihr Schulbegleiter Micha zum Beispiel, der sonst mit gewalttätigen Jugendlichen arbeitet und nicht jedes Spielchen mitspielt.
Schulbegleiter mit Rettungsphantasien
"Können wir danach zu Dir nach Hause gehen? Geht das?" – "Nein, das geht nicht!" – "Wieso? Du bist doch mein Freund…" – "Bennie, ich bin nicht Dein Freund! Ich bin Dein Schulbegleiter!"
Trotz der klaren Ansage zu Beginn verschwimmen allmählich die Grenzen. Micha verliert den professionellen Abstand zu Bennis hoffnungslosem Schicksal. Er entwickelt – wie er selbst sagt – "Rettungsphantasien".
Wo hört Hilfsbereitschaft auf, wo fängt Selbstaufgabe an? Auf diese Fragen liefert die Regisseurin Nora Fingscheidt viele Antworten, aber keine endgültigen. Es gelingt ihr durch feinste Personenzeichnung, das Dilemma überzeugend darzustellen, in dem jeder einzelne der Beteiligten steckt – am tiefsten natürlich Benni. Sie will Nähe, hat aber schon früh schmerzvoll lernen müssen, dass Bindungen nicht immer von Dauer sind.
"Wo war Mama?" – "Das weiß ich nicht. Aber ich sag Dir sofort Bescheid, wenn ich’s weiß, ja?" – "Du bist so lieb, Frau Bafané!" – "Du auch."
Mitgefühl für Benni
Nora Fingscheidts "Systemsprenger" ist eine Reflexion über Mitgefühl. Jeder will nur das Beste für Benni – auch wir Zuschauer, die wir im Laufe der 118 Filmminuten in den Strudel der Empathie hineingezogen werden. Somit ist der Alfred-Bauer-Preis genau richtig gewesen: Denn die Berlinale würdigt mit ihm "neue Perspektiven der Filmkunst". Und daran mangelt es "Systemsprenger" nicht: Niemand wird angeklagt. Vielmehr entwickeln wir Verständnis für alle Seiten, alle Perspektiven.
Für seine filmischen Mittel verdient der Film dagegen keine allzu große Auszeichnung: So unstet der Boden, auf dem alle stehen, so wackelig führt uns die Kamera durch das Geschehen. Und wenn Bennis traumatische Erlebnisse wachgerufen werden, dann blendet sich der Film in ihr Bewusstsein: dumpfe Klänge, intensive Farben, einzelne Bilder in Nahaufnahme. Ein bisschen zu nachdrücklich kommt die Visualisierung der Empfindungen daher.
Doch alles in allem ist "Systemsprenger" ein großer Wurf mit einem ausnahmslos beeindruckenden Schauspielensemble und mit der vielschichtigen Auseinandersetzung mit einem Thema, das eine Urangst berührt.