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Filmfestival Cannes
Palmenträume

Die Goldene Palme von Cannes ist eine der begehrtesten Trophäen der Filmbranche. 21 Wettbewerbsfilmerinnen und -filmer machen sich in diesem Jahr Hoffnung darauf. Doch auch andere sehnen sich nach den stacheligen Pflanzen - die überraschend allgegenwärtig sind.

Von Maja Ellmenreich | 08.05.2018
    Eine Palme in Cannes, die sich durch den Asphalt gebohrt hat.
    Hat sich durch den Asphalt gebohrt: In Cannes wollen selbst die Palmen hoch hinaus (Deutschlandfunk / Maja Ellmenreich)
    Die erste Palme sichte ich bereits am Kölner Hauptbahnhof. Die Türen der S-Bahn schließen sich, und mir gegenüber nimmt ein junger Mann Platz: Wummernde Bässe dringen aus seinen Kopfhörern, in Überschallgeschwindigkeit tippt er Nachrichten in sein Handy, und seine nervösen Oberschenkel zittern wie Espenlaub. Doch während der gesamte Körper unter Strom zu stehen scheint, prangt auf dem rechten Unterarm das Bild eines Ruhe verströmenden Sehnsuchtsortes: eine sauber tätowierte Südseeidylle aus Sand, Wellen und einer überdimensionierten Palme am linken Bildrand. Ein beeindruckendes Gewächs, das mit seinen Proportionen den vorgegeben Tattoo-Rahmen zu sprengen droht. Da ist es mit dem Körperkünstler wohl durchgegangen: zu groß der eigene Wunsch nach Erholung? Nach Sonnenwärme, Palmenschatten und Seeluft?
    Während ich mich in Gedanken über den ausgelaugten Tatowierer verliere, verpasse ich den Moment, mein elektrifiziertes Gegenüber um ein Bild zu bitten. Bevor ich also überhaupt auf die Idee komme, dass ein Foto des Palmen-Unterarmes meine erste "Postkarte aus Cannes" schmücken könnte, steigt der Mitreisende an der nächsten Haltestelle aus.
    Planänderungen
    Ruhe und Erholung werden in Cannes auch in diesem Mai nicht zu finden sein - Sandstrand hin oder her. Zu zahlreich die Filme, zu groß die Neugier darauf und zu überbordend der Wirbel um die Palmen, der in diesem Jahr einen Wochentag früher beginnt als gewohnt. Schon am Dienstag. Entsprechend früher werden auch die Palmen vergeben werden: eine Woche später am Samstag. Diese kalendarische Veränderung hat den üblichen Festivalwirbel nochmals beschleunigt: Früher anreisen, die bestehende Reservierung, den eingeübten Festspielkalender anpassen. Es ist erstaunlich, was für einen Unterschied 24 Stunden machen können. Ganz Cannes sei in Aufruhr, schreibt mir meine Vermieterin einige Wochen vor Festivalstart. Wann reisen die Gäste an? Wann beginnt, wann endet der Filmmarkt?
    Psychologen diagnostizieren eine Anpassungsstörung, wenn es schwerfällt, Planänderungen klaglos hinzunehmen. Das beschauliche Cannes und die unzähligen Kinobesucher scheinen in diesem Jahr darunter zu leiden. Aber es besteht Hoffnung, dass, wenn die Festspielmaschinerie erst mal in Gang ist, sich alles zurechtruckelt. Ansonsten bleibt ja noch die Möglichkeit, ab und zu den Blick auf eine der vielen Croisette-Palmen zu richten. Und vom Urlaub zu träumen, von einem schattigen Plätzchen an einem menschenleeren Strand. Ohne Kalender und Verpflichtungen.