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Filmfestspiele Cannes 2018
Streaming ist nicht Kino, oder doch?

Das Filmfestival Cannes will keine Produktionen von Netflix im Programm zeigen, wenn die nicht auch im Kino zu sehen sind. Im Gegenzug droht der Streaming-Dienst, keine Weltpremieren mehr für die Croisette anzubieten. Aufeinander verzichten können beide aber nicht.

Hartwig Tegeler im Gespräch mit Ulrich Biermann |
    Ein junger Mann lässt sich eine Seite der Videostreaming-Firma Netflix auf einem Laptop und auf einem Fernsehbildschirm zeigen.
    Sehen wir durch Streaming-Anbieter in Zukunft mehr Kinofilme auf den heimischen Geräten? (dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Ulrich Biermann: Achtung Zitat: "Durch die pure Existenz der Streamingdienste haben sich die Möglichkeiten der Erzählformen verändert." Eine Aussage von TV-Produzent Oliver Berben beim weltweit größten Fernsehrechtemarkt MIPTV in Cannes. Da hat er seine vierteilige ZDF-Serie «Die Protokollantin» vorgestellt. Vor fünf Jahren wäre die so nicht möglich gewesen, sagt der Produzent. Streaming verändert Fernsehen, das wissen wir, aber auch das Kino, was heute deutlich wird. Am Mittwoch wird das Programm der Filmfestspiele von Cannes offiziell bekannt gegeben. Und der Streaming-Dienst Netflix droht, keine seiner Produktionen mehr an der Croisette zu präsentieren. Was haben Streaming-Dienst-Produktionen überhaupt auf so einem Festival zu suchen?
    Hartwig Tegeler: Inzwischen ist es ja so, dass Kino und Streamingdienste immer mehr miteinander zu tun haben. Und dieses Rad werden wir wahrscheinlich auch nicht zurückdrehen können. Denn es ist ja tatsächlich so, dass man heute, wenn man bestimmte Filme sieht, gar nicht mehr unterscheiden kann: werden sie für den kleinen Bildschirm gemacht, werden sie für die große Leinwand gemacht. Und da gibt es ja wirklich auch gerade aus der Jetzt-Zeit sehr spannende Beispiele, wo man einfach nur sagen muss: Jaja, Streaming-Dienste und Kino haben sehr viel miteinander zu tun.
    Und vielleicht darf ich da einfach mal auf das, ja, spannendste Beispiel der letzten Wochen eigentlich zurückkommen: Das ist ein Science-Fiction-Film, der heißt "Auslöschung", ist von Alex Garland. Alex Garland ist der Regisseur, der den wunderschönen Spielfilm "Ex Machina" gemacht hat, und der jetzt auch diesen, einen sehr, sehr schönen Science-Fiction Film gemacht hat. Den hat ursprünglich für 40 Millionen Dollar - nicht so wenig, aber auch nicht das Highend-Budget - haben das die Paramount Pictures produziert. Ja, und dann gab es diese berühmten Test-Screenings, das heißt, ein ausgewähltes Publikum guckt sich das an und muss hinterher Kärtchen ausfüllen, und dann kam das Hinrichtungsurteil. Das lautete nämlich, der Film sei, wie der Produzent dann hinterher veröffentlichte, zu intellektuell, zu kompliziert.
    Lange Rede, kurzer Sinn: "Auslöschung" von Alex Garland hatte zwar im Februar 2018 in den USA, Kanada und China einen Kinostart, aber er ist bei uns direkt auf die Streamingplattform gekommen. Also ein wunderbarer Film, den wir gerne auch auf der großen Leinwand gesehen hätten. Ja, da ist er nun gelandet, und da müssen wir ihn dann, je größer unser Flatscreen zuhause ist, umso glücklicher dürfen wir sein, da wird er zu sehen sein, auch in Zukunft, und nie im Kino in Deutschland zu sehen sein.
    Große Produktionen nicht mehr automatisch auf der großen Leinwand
    Biermann: Aber das ist ja der Punkt, worüber letztes Jahr französische Kinobetreiber geklagt haben, haben gesagt: hallo, was soll denn diese Streaming-Sachen bei euch auf dem Festival, die werden nie bei uns ins Kino kommen. Also das ist aj eine unglaubliche Marktmacht, die da plötzlich ausgeübt wird.
    Tegeler: Natürlich. Und es wurde dann auch so kolportiert, dass dieses Paket, das die Paramount Pictures an Netflix verkauft hat, wo unter anderem auch ein anderer Film, der relative Aufmerksamkeit bekommen hat, nicht unbedingt wegen seines Inhaltes und seines Niveaus, sondern wegen einer Reihe: "The Cloverfield Paradox". Da wurde dann so kolportiert von den Insidern, naja, Netflix kauft so ein Zeug inzwischen aus der Portokasse. Es ist tatsächlich so, dass da ein Strukturwandel passiert, den wir - ich sagte es am Anfang schon - nicht mehr zurückdrehen können und wo einfach sich die Art und Weise, wie wir in Zukunft - reden wir jetzt einfach mal von den anspruchsvolleren, von den guten Filmen. Die werden wir in der Regel nicht automatisch mehr im Kino zu sehen bekommen, und ich fürchte einfach, das ist die Realität.
    Und Frankreich - Cannes und so weiter - die sind da ja noch sehr weit, weil sie wirklich eine sehr, wie ich finde in dem Fall, auch eine sehr vernünftige, protektionistische Politik machen und sagen: wir wollen das Kino, als große Kulturnation, wir wollen das Kino als Kino, als große Leinwand erhalten. Aber der Strukturwandel geht in eine Richtung - zumindest, wenn ich es positiv ausdrücke - wo es sich auffaltet.
    "Vermischung der ästhetischen Sprachen"
    Biermann: Aber heißt das für die Zukunft, bestimmte wichtige Produktionen, bestimmte ästhetisch sinnvolle, auf der Kinoleinwand zu sehende werden wir nur noch auf einem kleinen Bildschirm sehen können?
    Tegeler: Ich darf an ein historisches Beispiel erinnern. Am 02.04.1968 hatte ein Film seine Weltpremiere, der Film "2001 - Odyssee im Weltraum" von Stanley Kubrick. Der Film war am Anfang, als er in die Kinos kam, wurde der - das können wir uns heute vielleicht gar nicht mehr vorstellen, weil das ist für uns ein Klassiker der Filmgeschichte des Science-Fiction Films - der wurde verrissen. Und trotzdem hat er jetzt, jetzt blicken wir so auf ihn, als ein wirklich großes Meisterwerk.
    Dieser Film - ist mal meine Prognose - der ja sehr anspruchsvoll ist und sehr unkonventionell ist, dieser Film würde nach meiner Einschätzung heute das Licht der Leinwand - wenn ich das jetzt mal so sehr euphoristisch bezeichnen darf - würde er das Licht der Leinwand gar nicht mehr erblicken. Das zu sehen auf der großen Leinwand, wird in Zukunft die Ausnahme sein.
    Biermann: Wie gehen denn die Regisseurinnen und Regisseure damit um? Weil: die haben ja zum Beispiel plötzlich auch damit zu tun, dass sie keine Kinoauswertung mehr haben.
    Tegeler: Alex Garland hat beispielsweise in dem Zusammenhang davon geredet, er hätte diesen Film für die große Leinwand gemacht. Aber er hat ihn gemacht, er hat sein Budget bekommen, er hat den Film abgeliefert, ob er jetzt wirklich den Final Cut damit hatte, ist in diesem Zusammenhang gar nicht das wichtige. Nur, er entscheidet das ja gar nicht, ob der Film dann bei Netflix oder Amazon Video landet oder im Kino. Der hat seine Arbeit abgeliefert, und wenn er nicht ganz ausgefeilte, ja, sagen wir mal Vertragsbedingungen hat, dann entzieht sich das auch seinem Einfluss.
    Und dieses hin und her zwischen den - um es mal etwas flapsig zu sagen - zwischen den unterschiedlichen Formen, ich meine, ich darf dran erinnern, dass Steven Soderbergh gerade vorletzte Woche einen Film vorgelegt hat, der ins Kino gekommen ist, den er nur auf dem iPhone gedreht hat. Das zeigt ja schon an dem Beispiel von Steven Soderbergh, wie sich die ästhetischen Sprachen auch vermischen, und dass die gar nicht mehr ganz klar an den einen Ort, das Kino, festgemacht werden können. Und ich denke, in diesem Wandel befinden wir uns im Augenblick. Und, wohin der Zug fährt, lassen Sie uns in fünf Jahren darüber reden. Ich denke, das Kino wird weiter existieren, aber es werden bestimmte Filme dort nicht mehr auftauchen.
    Biermann: Herzlichen Dank, Hartwig Tegeler.