Der Wettbewerb 2014 mit seinen 18 Filmen hatte einen starken politischen Akzent. Einen Hang zum Poetischen dagegen zeigte die wichtigste Parallelreihe des Festivals, "Un Certain Regard". 20 Filme standen hier auf dem Programm. Zahlreiche Beiträge suchten einen anderen Blick auf die Welt und das Leben, den Vogelblick gewissermaßen. Denn Vogelmenschen sehen ihre Umgebung auf eine besondere Weise, jedenfalls im Film der französischen Regisseurin Pascale Ferran. "Bird People" heißt Ferrans Geschichte über ein Zimmermädchen und einen amerikanischen Manager in einem Flughafenhotel bei Paris.
Das Zimmermädchen hat ein gutes Gespür fürs Atmosphärische, für die Poesie des Augenblicks inmitten der Geschäftigkeit. Als sei sie ein kleiner Vogel, stürzt sich die junge Frau vom Hoteldach, flattert durch die Luft, beobachtet die Hotelgäste in ihren Zimmern, lässt sich von einem japanischen Zeichner zuerst füttern, dann in Tusche malen und verlässt am Morgen barfuß das Hotel an der Seite des amerikanischen Geschäftsmannes. Dessen Geschichte haben wir zuvor erfahren. In der vergangenen Nacht hat er sich von allen geschäftlichen und privaten Verbindungen in langen Überseetelefonaten getrennt. Dauerstress im Job und Familienfrust will er nicht mehr mitmachen.
Pascale Ferrans Film "Bird People" ist leicht, luftig, poetisch inszeniert. Ähnlich verfährt ihre koreanische Kollegin July Jung in "A girl at my door". Ein Film über eine Polizistin, die sich in einem Küstenstädtchen um ein misshandeltes Mädchen kümmert. Für solche wie mit Tuschepinsel hingeworfene Arbeiten scheinen die Frauen unter den Filmemachern ein Händchen zu haben. Auch Naomi Kawases beeindruckender Wettbewerbsfilm "Still the water" hat diesen Zauber. Ein Film über das Leben auf einer subtropischen japanischen Insel über das Sterben, die erste Liebe und die Natur und wie eins ins andere spielt. Etwas Paradiesisches liegt in Kawases Bild- und Klangwelt. Dort würde man gerne leben.
Auf die Suche nach einem solchen idealen Ort macht sich ein dänischer Offizier im 19. Jahrhundert auf, zusammen mit seiner jugendlichen Tochter. In Südamerika, glauben sie, muß es ihn geben. "Jauja" wird er genannt, seit je, ein mythologischer Ort. "Jauja" heißt auch der Film von Lisandro Alonso aus Argentinien. In langen Einstellungen voller Ruhe mit endlosen Landschaften im Hintergrund begleitet Alonso den mutigen Offizier und seine Tochter. Wie alle früheren Expedition wird auch seine scheitern. Am Ende wacht dieser wunderschöne Film in unserer Gegenwart auf, in Schlafzimmer und Garten eines alten dänischen Landhauses. "Jauja" könnte daheim verborgen und zu entdecken sein.
So wie auch der brasilianische Fotograf Sebastiao Salgado nach Jahrzehnten und zahllosen Reisen in die Krisen-, Kriegs- und Hungerregionen auf seine Fazenda zurückgekehrt ist, um das ausgetrocknete Land wieder aufzuforsten. Die Ausgebeuteten, die Elenden, die Flüchtenden hat Salgado sein Leben lang als Fotograf festgehalten, ohne deren menschliche Würde zu verraten. Im Gegenteil: Salgados Schwarz-Weiß-Bilder zeigen auch immer Stärke und Schönheit jedes einzelnen der porträtierten Menschen. Und genau das macht Wim Wenders in seiner herausragenden Filmdokumentation über Leben und Werk des Brasilianers deutlich in "The salt oft the earth".
An der Seite Wenders blättert Salgado seine Fotografien durch, an der Seite Salgados reist Wenders zu den Festen indigener Völker, in den Urwald, an den Polarkreis und wieder zurück in die brasilianische Heimat des Künstlers. Die Bäume an den Hängen der wiederaufgeforsteten Hügel sind in den letzten Jahren kräftig gewachsen, die Wüste scheint besiegt zu sein, ein Stück Erde ist wieder grün und lebendig. Für Menschen und andere Vögel. In der Reihe "Un Certain Regard" war das Festival von Cannes in diesem Jahr ein Poesiefestival in bewegten Bildern.