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Filmkritik: "Leto" von Kirill Serebrennikow
Punkrock am Ende des Kalten Krieges

In Russland steht Kirill Serebrennikow unter Hausarrest und vor Gericht. In den deutschen Kinos zeigt jetzt sein mitreißender Musikfilm "Leto" Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück. Eine Zeitreise ins Leningrad der 80er-Jahre, in den letzten Frühling des sowjetischen Jahrhunderts.

Von Rüdiger Suchsland |
    Der koreanische Schauspieler Teo Yoo posiert bei der Premiere des Films "Leto" von Kirill Serebrennikov in Moskau.
    Der koreanische Hauptdarsteller Teo Yoo bei der Premiere des Films "Leto" in Moskau (imago / ITAR-TASS / Sergei Fadeichev)
    Ein halblegales Konzert in einem Hinterhof. Die Kamera begleitet zwei junge Frauen, die sich durch ein Hoffenster hineinschleichen. Ein Hauch von Anarchie, vom Überschreiten verbotener Grenzen liegt in der Luft. Es spielt eine Band namens "Zoopark". Wir sehen den Frontmann "Mike", wir sehen Natasha, Mikes Freundin, und einen ganzen Haufen Leute, die wir bald besser kennenlernen werden in diesem Film. Alles, so hat ein Schriftzug zu Beginn verkündet, spielt in "Leningrad, in den frühen 80ern".
    Popkultur im Staatssozialismus
    Deshalb blickt man anders hin, bemerkt Adidas-Schuhe, westliche Musik, westliche Namen. Der Westen ist das große Vorbild für diese Jugendbewegung im Schatten des Staatssozialismus - ein Sehnsuchtsraum, in den alle Träume, alltäglichen Hoffnungen, auch schlichte Utopien projiziert werden. Ein paar Herren von der Partei sind auch zum Konzert gekommen und sorgen für Ordnung, dafür, dass allzu enthusiastisch zur Schau getragene Emotionen schnell wieder verschwinden.
    Aber das System weiß, dass es mit purer Repression nicht weit kommt, es Popkultur, neuartige Bands und deren Auftritte dulden muss - inmitten dieses kulturellen Tauwetters platziert der Film seine Geschichte. "Sowjetische Rockmusiker müssen sich bemühen, das Gute im Menschen zu finden" - "wenn erstmal die Kids Deine Songs auf der Straße singen - ja das wird alle umhauen. "Heute sind die Punk-Rock-Gruppen "Zoopark" und "Kino" Legenden, Anfang der 80er-Jahre waren sie der erste Vorschein einer anderen Zukunft, die als "Glasnost" und "Perestroijka" bald auch den Westen verzauberte und für die neuen liberalen Seiten der Sowjetkultur einnahm.
    Emotionale Dynamik
    "Leto" erzählt diese Geschichte vom Herbst des sowjetischen Jahrhunderts und von einem frühlingshaften Aufbruch unter den Leningrader Jugendlichen der frühen 80er-Jahre. Während die UdSSR gerade in Afghanistan einmarschiert, entdeckt ein Dutzend 20-Jähriger New Wave und Punk, von Bowie bis Blondie.
    Die Handlung basiert auf einer autobiografischen Vorlage von Natalia Naumenko, dem realen Vorbild für Natasha: Eine ebenso intelligente wie charmante junge Frau in der Mitte einer Dreiecksbeziehung zwischen Mike und Viktor, dem Sänger der Gruppe "Kino". Vor allem die mitreißende Musik sorgt für emotionale Dynamik, aber auch die drei Hauptfiguren: Viktor ist der Rätselhafte, Natasha die Kluge, Gelassene, Skeptische. Mike hat die schönsten Drehbuchsätze und er ist der Großzügigste: Er schenkt Namen, Ideen, Songs, Studioverträge und rettet spontan mit seinem Charisma die missglückte Performance eines Freundes.
    Mit "Leto" gelingt Kirill Serebrennikow ganz großes Kino, das in Form einer privaten Geschichte das Bild einer ganzen Gesellschaft entfaltet und hier viele Elemente verbindet.
    Virtuoses Bewegungskino
    Vor allem begeistert die Inszenierung: in Schwarzweiß, unterbrochen von Farbsprengseln und Animationspassagen. Figuren sprechen in die Kamera und reißen so immer wieder die Barrieren der sogenannten "vierten Wand" ein. Die Kamera ist großartig: In fließenden Bewegungen beobachtet sie sensibel, fängt die Blicke der Figuren aufeinander glänzend und präzise auf, stiftet Beziehungen, ist ein Teilnehmer.
    Die Montage ist überaus schnell und dynamisch, geprägt von der mitreißenden New-Wave-Musik von "Zoopark" und "Kino". Manche der Songs sind "gecoverte" Post-Punk-Stücke aus dem Westen - etwa von den Talking Heads oder Police. "Leto" ist anspielungsreich, fantasievoll - virtuoses Bewegungskino.
    Er dementiert allen zur Zeit grassierenden anti-utopischen Pessimismus: Serebrennikows mitreißender Musikfilm zeigt schöne Menschen, die schöne Dinge machen, er zeigt Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück und er feiert einen großzügigen Umgang der Menschen untereinander.