Die berühmteste stilbildende Szene des Kamerakünstlers Karl Freund ist in Friedrich Wilhelm Murnaus Melodram "Der letzte Mann" von 1924 zu sehen. Für die Eingangsszene befestigte er die Kamera an einem Fahrrad, und so fahren wir zusammen in einem gläsernen Aufzug hinunter in die Halle zum Hotelportier, der vor einer Drehtür steht.
Wenn es heute eine "Generation Internet" gibt, so gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine "Generation Kino". Das Medium war neu und auch Karl Freund – am 16. Januar 1890 in Königinhof an der Elbe, heute Tschechien, geboren - wuchs mit den faszinierenden neuen Möglichkeiten der bewegten Bilder auf. Er sollte einer der größten Erfinder und Erneuerer der Kinokunst werden. Ab 1906 war er in Berlin in verschiedenen technischen Filmberufen tätig. Und so fand er sich 1919 noch als junger Mann mitten in der aufstrebenden deutschen Filmindustrie wieder, wo er unter anderem mit Altersgenossen wie den Filmregisseuren Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang und dem Drehbuchautor Carl Meyer einen wichtigen Beitrag zum deutschen Stummfilmexpressionismus leistete. Kameraleute waren damals etwas ganz Besonderes, erklärt Martin Koerber von der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin:
"Damals waren die Kameraleute eigentlich neben dem Regisseur sicherlich die Könige auf dem Set und am Drehort. Sie waren in der Regel selbstständig. Sie hatten ihre eigenen Geräte, sie hatten ihre eigenen Betriebsgeheimnisse. Im Falle von Karl Freund war es sogar so, dass er sein eigenes Kopierwerk hatte."
Am Set trugen die Kameraleute und die Regisseure weiße Kittel. Auf den alten Werkfotos sehen sie aus wie Apotheker. Film hatte damals ja auch noch viel mit Chemie zu tun. Die Filmrollen rochen schwefelig und waren explosiv. Karl Freund war aber wesentlich auch am "Look" seiner Filme beteiligt. Er wollte die Kamera endlich so beweglich machen wie es die jeweilige Filmgeschichte erforderte. Freund ließ sich seine "entfesselte Kamera" vor den Bauch binden, sie flog durch die Luft oder war auf einem selbstkonstruierten Wägelchen unterwegs. Auch in den legendären Filmen "Faust" von Friedrich Wilhelm Murnau und "Metropolis" von Fritz Lang dirigierte Freund die Kamera.
Mit "Berlin - Die Sinfonie einer Großstadt" schaffte Freund einen Mythos
"Die Rolle von Karl Freund Ende der 20er Jahre hat sich gewandelt. Er ist nicht mehr nur der Kameramann, sondern er ist jetzt auch Produzent. Er ist der verantwortliche künstlerische Leiter der Firma Fox-Europa, die für die Hollywoodfirma Fox in Deutschland Quotenfilme herstellt. Dieses Geld, das also aus Hollywood auf die Weise nach Deutschland kam, wurde von Zweigfirmen verwaltet, die hier vor Ort waren. Und Freund hat diese Position genutzt, um zu experimentieren."
Freund war die sterile Studioatmosphäre leid und regte 1927 den Dokumentarfilm "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" an. Vom ersten Morgenlicht bis tief in die Nacht ließ er das Alltagsleben in Berlin mit Kameras beobachten. So entstand ohne Drehbuch, ohne Stars und mit unglaublichen Freiheiten der Kameraarbeit ein authentisches Porträt der Metropole, das noch heute seinesgleichen nicht gefunden hat. Doch Freund zog es nach Amerika. Dort konnte er seine Farbfilm- und Tonexperimente in großer Unabhängigkeit von politischen und ökonomischen Zwängen realisieren. Er war an den Experimenten mit dem Technicolor-Verfahren beteiligt und wurde dann Regisseur damals besonders beliebter Horrorfilme. Was hatte er mitgenommen aus Deutschland?
"Es gibt durchaus einige Hollywoodfilme der frühen 30er Jahre, wo man noch an Deutschland denken kann. Zum Beispiel der erste Regiefilm "The Mummy", "Die Mumie" mit Boris Karloff, der so ein bisschen expressionistisch von der Beleuchtung und auch von der Dekoration daherkommt."
Bei 120 Filmen hat Karl Freund in Deutschland und später dann in Amerika die Kamera geführt. Oft übernahm er zusätzlich die Regie. Alle großen Stars seiner Zeit hatte er vor der Linse. Bis zu seinem Tod 1969 in Kalifornien, blieb Karl Freund der bedeutendste Pionier der ästhetischen Kameraführung.