Philipp May: Heute kommt in Fulda der Bundesvorstand der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG zusammen. Morgen soll die Tarifforderung beschlossen werden. Ab Mitte Oktober wird dann mit der Deutschen Bahn verhandelt. Müssen sich die Bahnreisenden wieder auf einen harten Winter mit mehreren Streikwellen einstellen wie vor vier Jahren?
Klemens Kindermann: Das hoffen wir natürlich alle nicht. Allerdings: Wir haben dieses Jahr eine besonders kritische Konstellation: Die Deutsche Bahn ist so klamm wie lange nicht. Der Gewinn schrumpft, rinnt der Bahn durch die Finger. Der Ausbau der Netze, die vielen Baustellen, neue Züge, neue Technik, dazu die Krise im Güterverkehr – der Bahn geht das Geld aus.
Der Vorstand der Bahn hat jetzt einen Brandbrief an die Führungskräfte geschrieben: Es muss gespart werden. Eine Bankrotterklärung des Vorstands sei das, so der Konzernbetriebsrat.
Also da ist richtig Feuer unterm Dach bei der Bahn. Und genau in diese Situation kommen jetzt die Tarifforderungen. 7,5 Prozent mehr Lohn will die Lokführergewerkschaft GDL haben, hat sie gerade mitgeteilt. Da wird sich wahrscheinlich auch die andere Bahn-Gewerkschaft, die EVG, morgen nicht lumpen lassen. Zum Vergleich: Die IG Metall hatte bei der Tarifrunde dieses Jahr gerade mal sechs Prozent gefordert. Hohe Lohnansprüche gegen leere Taschen – das riecht irgendwie nach Tarifkonflikt. Und da können wir nur hoffen, dass wir im Winter nicht bei Schnee auf dem Bahnsteig auf die nächste Lok mit einem nicht-streikenden Lokführer warten.
Ein bunter Laden, in dem nicht alles perfekt funktioniert
May: Wie stark ist denn die Verhandlungsposition der Gewerkschaften – ist die Bahn auf die Lokführer immer noch so stark angewiesen?
Kindermann: Ja, ist sie. Den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn, Richard Lutz, habe ich danach auch gefragt im Interview der Woche des Deutschlandfunks letzten Sonntag und der hat dazu folgendes gesagt:
"Dieses Jahr wollen wir 19.000 neue Kolleginnen und Kollegen gewinnen. Und da gehören auch Lokführer dazu. Es ist richtig, dass wir Lokführer suchen, allerdings auch Lokführer - Gott sei Dank - finden, die mit viel Spaß in das Unternehmen kommen, weil sie eben sehen, dass es ein bunter Laden ist, wo nicht alles perfekt funktioniert, wo sie aber mithelfen können, einen wichtigen Verkehrsträger, nämlich die Schiene nach vorne zu bringen."
Bahn setzt auf Digitalisierung
May: Ex-Bahnchef Rüdiger Grube hat mal vorgerechnet, dass spätestens im Jahr 2023 in Teilen des Netzes vollautomatisch gefahren werden könnte – braucht man überhaupt noch Lokführer?
Kindermann: Im Moment dringend und für eine ganze Zeit lang sicher schon. Aber in der Tat: Heute startet in Berlin die Innotrans, die wichtigste Messe für Eisenbahntechnik. Und was man da zu sehen bekommen wird, kann einen schon nachdenklich werden lassen: Viel Digitalisierung, viel Sensortechnik, die den Weg bereiten könnte zum autonom fahrenden Zug.
Der staatliche französische Bahnbetreiber SNCF hat letzte Woche angekündigt, mit großen Partnern aus der Industrie autonome Züge auf die Schiene bringen zu wollen.
Bis 2023 sollen Prototypen für Regional- und Frachtzüge entwickelt werden, die ohne Lokführer fahren können.
Das wäre dann das Ende eines wunderbaren Berufs, von dem viele Kinder einmal geträumt haben.