1,3 Millionen Menschen leben in Deutschland, die jahrzehntelang gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben und am Ende doch nur eine Rente beziehen, die so hoch ist oder sogar niedriger als der derzeitige Hartz-IV-Satz – darunter Verkäuferinnen, Pfleger, Lieferdienstfahrer, also genau die, die in der Corona-Krise als systemrelevant identifiziert worden sind. Die SPD hat deshalb gegen den Widerstand der Union die Grundrente durchgesetzt. Heute berät der Bundestag in erster Lesung. Doch angesichts leerer Kassen und weil die Vereinbarungen nicht eingehalten seien, steht die Union auf der Bremse.
Darüber sprechen wir mit Klaus Barthel. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AFA) der SPD.
Heckmann: Herr Barthel, Finanzminister Olaf Scholz hat gestern in der Bundespressekonferenz gesagt: Wer jetzt sage, dass das Geld für die Grundrente nicht da sei, der gehöre ausgebuht. Ist das gegenseitige Ausbuhen mittlerweile der Stil innerhalb der Großen Koalition?
Barthel: Er hat inhaltlich völlig recht und die Grundrente droht in der Tag, die Stimmung in der Großen Koalition zu vergiften, weil die Union seit Beginn dieses Projekts im Grunde versucht, das Ganze so zu verkomplizieren und zu erschweren, dass am Ende im Grunde nichts mehr dabei herauskommt.
Heckmann: Das heißt, Sie werfen dem Koalitionspartner vor, diese Pläne eigentlich zu konterkarieren?
Barthel: In der Tat. Was da jetzt alles reingedrückt worden ist von der Union schon im Vorfeld, zum Beispiel mit dieser Einkommensprüfung, das macht die Sache so schwer, wo dann auch die Rentenversicherung sagt, der bürokratische Aufwand ist immens. Gleichzeitig wird jetzt diese Komplexität von der Union wiederum verwendet, um das Modell anzugreifen. Das heißt, sie schaffen Probleme, die sie nachher als Hilfsmittel benutzen, um die Grundrente zu torpedieren, und wir hoffen nur, dass sich da die vernünftigen Teile der Union durchsetzen werden.
An Finanzierung "endlich auch die Kapitalmärkte beteiligen"
Heckmann: Die Union schafft Probleme, sagen Sie. Sie habe Dinge reingedrückt im Vorhinein. Die Union sagt allerdings, die SPD habe nicht geliefert. Ein Punkt nämlich: Die Finanzierung – kein ganz unwichtiger Punkt, denn die Grundrente soll ja eigentlich über die Finanztransaktionssteuer gegenfinanziert werden, und von der ist tatsächlich weit und breit nichts zu sehen.
Barthel: Es ist ja bekannt, dass diese Finanztransaktionssteuer nur gemeinsam in Europa erreicht werden kann, wenn genügend willige Staaten da mitmachen. Auch hier kann man sagen, seit 2009, glaube ich, oder 2010 war es, dass der damalige Finanzminister Schäuble versprochen hat, im Zuge der ganzen Rettungsaktionen für den Euro die Finanztransaktionssteuer in Europa durchzusetzen.
Heckmann: Das wird schon lange versprochen. Das sagt ja auch die Union.
Barthel: Er hat da viel Zeit gehabt und er ist auch an den Mehrheiten in Europa gescheitert, aber auch an dem politischen Willen, und es sind ja genau die politischen Freunde der Union in allen europäischen Ländern, die dieses Projekt immer wieder torpedieren. Und dann zu kommen, wir sollen das machen ... Bitte!
Heckmann: Und warum sollte sich das ändern?
Barthel: Wir müssen weiter Druck machen in Europa. Ich denke, die Corona-Krise und die damit entstehenden Kosten werden den Druck erhöhen, dass man zu vernünftigen Finanzierungen auch in Europa kommt, an denen endlich auch die Kapitalmärkte und die Umsätze auf den Kapitalmärkten beteiligt werden.
Heckmann: Aber, Herr Barthel, der Druck wird ja schon seit Jahren gemacht, und zwar am Ende erfolglos, und genau das vermutet ja die Union, dass am Ende die Finanztransaktionssteuer auf europäischer Ebene eben nicht kommt und dann die Grundrente aus Steuermitteln bezahlt werden soll.
Barthel: Ja! Aber ich meine, wenn die Finanztransaktionssteuer in Europa scheitert, weil die, sagen wir mal, progressive Politik zu schwach ist, kann das nicht an den armen Rentnern ausgelassen werden.
Vermögenssteuer und Abschaffung der Abgeltungssteuer
Heckmann: Dann sagt aber die Union, dann machen wir nicht mit, denn die Vereinbarung ist, dass die Gegenfinanzierung stehen muss.
Barthel: Ja! Aber dann müssen sie selber mit dazu beitragen, dass da was kommt. Im Koalitionsvertrag stehen auch andere Dinge drin, nämlich dass es über die Rentenversicherung abgewickelt wird und über Steuern finanziert wird. Man kann das jetzt alles ad absurdum führen. Unserer Meinung nach kann es nicht sein, dass die Altersarmut dadurch wächst, weil wir politisch nicht die Mehrheiten in Europa finden für eine Finanztransaktionssteuer. Dann muss man eben nach anderen Finanzierungsmechanismen, die auf der Kapitalseite liegen reden.
Heckmann: Was heißt das? Was meinen Sie?
Barthel: Na ja. Zum Beispiel eine Vermögensbesteuerung. Es gibt ja viele Dinge, die auch Norbert Walter-Borjans jetzt noch mal ins Gespräch gebracht hat: Abschaffung der Abgeltungssteuer und vieles mehr. Es muss jedenfalls klar sein, dass hier mehr soziale Gerechtigkeit auch in Form einer Umverteilung dann passiert.
Heckmann: Herr Barthel, Sie haben gerade gesagt, es wäre ja völlig klar, dass die Finanztransaktionssteuer, die ja gewollt ist von beiden Koalitionspartnern, nur auf europäischer Ebene wirklich Sinn ergeben würde. Jetzt hat aber Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, gestern gesagt: Wenn die Transaktionssteuer auf europäischer Ebene nicht kommt, dann kommt sie eben auf nationaler Ebene. Wäre das nicht völlig kontraproduktiv? Sie sagen ja selber, kann nicht funktionieren, denn Geld ist flüchtig.
Barthel: Na ja. Ich sage nicht, dass es nicht funktionieren kann, sondern bisher war der Weg über Europa. Aber in der Tat müssen wir dann darüber nachdenken, ob es nicht auch einen nationalen Weg gibt. Da hat Carsten Schneider völlig recht. Aber wir sind ja auch nicht in Europa irgendwer, sondern von der Bundesrepublik wird ja auch erwartet, dass wir zur Bewältigung der Krisenlasten einiges beitragen, und da muss man auch auf europäischer Ebene noch mal den Druck erhöhen. Aber wie gesagt: Einen nationalen Weg kann man und sollte man da nicht ausschließen.
"Es ist jetzt ein Projekt der ganzen Regierung"
Heckmann: Der zweite Faktor, wo die Union sagt, so geht es nicht und so geht es nicht in die zweite und dritte Lesung, ist die Bedarfsprüfung. Sie haben es gerade auch schon mal angesprochen. Die sei nicht gewährleistet. Auch die Deutsche Rentenversicherung, die das ja leisten soll, die sagt schon seit Monaten, das kriegen wir so schnell überhaupt gar nicht hin. Deswegen sagt Ralph Brinkhaus: Solange das nicht geklärt ist, geht das Gesetz nicht in die zweite und dritte Lesung. Was ist dagegen einzuwenden, wenn der Fraktionschef des Koalitionspartners sagt, wenn die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, die vereinbart worden sind, geht es halt nicht weiter?
Barthel: Na ja. Hubertus Heil hat ja mit Recht darauf hingewiesen, dass der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, in der Koalition, sprich in der Bundesregierung und damit auch mit allen Ressorts und dem Bundeskanzleramt abgestimmt ist. Insoweit ist es jetzt ein Projekt der ganzen Regierung. Es sind ja andere Dinge. Das Ganze trägt natürlich den Kompromisscharakter. Da haben ja auch die Redner der Opposition heute darauf hingewiesen. Wenn die SPD alleine eine Grundrente machen würde, würde die anders aussehen, aber man hat nun mal diesen Kompromiss, wo viel zu viel in meinen Augen Unions-Politik drin ist, und jetzt muss das aber auch umgesetzt werden. Wenn die Rentenversicherung darauf hinweist, dass es eventuell länger dauern kann, dann muss man das so machen, dass die Ansprüche, die die Rentnerinnen und Rentner dann ab 1. Januar 2021 haben, nicht irgendwie verfallen, sondern dass das dann nachträglich gezahlt wird, Dass es eine gewisse Umsetzungsfrist gibt, die es ja bei anderen Gesetzen auch gibt.
"Wir haben jetzt die Priorität, dass die Grundrente kommt"
Heckmann: Herr Barthel, wenn die Union sich weigern sollte, das Gesetz in die zweite und dritte Lesung zu geben, was würde das für die Koalition bedeuten?
Barthel: Das mag ich jetzt erst mir nicht ausmalen. Ich glaube, es wird sich jetzt in den nächsten Wochen herausstellen, dass auch der öffentliche Druck auf die Union so stark zunehmen wird, dass sie es nicht wagen wird, dieses Projekt, das jetzt eines der ganz wenigen in den letzten Monaten ist, das jetzt mal wirklich den ärmeren Menschen in der Republik zugutekommt, dass sie das wirklich torpedieren. Das werden sie sich nicht leisten können.
Heckmann: Würde das den Verbleib der SPD in der Großen Koalition infrage stellen?
Barthel: Darüber will ich jetzt überhaupt nicht spekulieren. Da bin ich auch der falsche Partner. Aber ich meine, die Diskussion in der SPD über diese Koalition wird sicher dann zunehmen. Aber wir haben jetzt die Priorität, dass die Grundrente kommt. Nachdem jetzt zehn Jahre darüber gestritten worden ist, über mehr oder weniger glückliche Modelle, sind wir jetzt an einer Stelle, wo wir in erster Linie mal die Grundrente durchsetzen müssen.
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