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Finger spreizen und mit der Hand wackeln

Martin Zierold sitzt für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte und ist Deutschlands erster gehörloser Parlamentarier. Unterstützt wird er bei seiner Arbeit von einem Gebärdensprachdolmetscher. Am 18. März 2012 wählt er auch den Bundespräsidenten mit.

Von Wolf-Sören Treusch |
    Kurze, glatte Haare, um das Kinn einen kleinen Bart, auf der Nase eine große, schwarze Hornbrille, vor sich einen Laptop. Rein äußerlich passt Martin Zierold perfekt nach Berlin-Mitte, ein Bezirk, der als Experimentierfeld für junge Leute gilt.

    "Wenn man mich das erste Mal sieht, dann fällt ja an mir nichts auf."

    Sagt er, oder genauer: lässt er sagen. Von Ralf Wiebel, einem seiner zahlreichen Gebärdensprachdolmetscher.

    "In den Dönerbuden ist es oft so, ich zeige dann hin, und dann sprechen die erstmal englisch mit mir. Dann mache ich Hände an die Ohren und sage: nee, ich bin kein Ausländer, ich höre bloß nix."

    Martin Zierold ist in dritter Generation taub. Auch seine Eltern und Großeltern sind gehörlos, wie der offizielle Begriff dafür lautet. Martin mag gehörlos nicht: das klinge immer so, als würde ihm etwas fehlen, gebärdet er. Noch so ein Begriff, an den man sich erst gewöhnen muss, wenn man mit ihm redet: gebärden. Und reden wollen zurzeit viele mit ihm. Martin Zierold ist der erste taube Parlamentarier Deutschlands.
    Martin Zierold sitzt für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte und ist Deutschlands ersten gehörlosen Parlamentarier. Unterstützt wird er bei seiner Arbeit von Gebärdendolmetscher. Am 18. März 2012 wählt er auch den Bundespräsidenten mit.

    "Bis jetzt ist halt viel Presserummel man merkt einfach, dass viele Menschen, die hören, keine Ahnung haben, was das Leben der tauben Menschen betrifft. Das muss ich ausnutzen. Man hat dann so eine Art Vorbildfunktion."

    Sein Experimentierfeld, das ist die Politik im Berliner Bezirk Mitte. Seit vier Monaten sitzt er dort für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung. Etwa 50.000 Euro jährlich wird das den Steuerzahler kosten. Davon werden die Dolmetscher bezahlt, die Martin Zierold bei seiner politischen Arbeit unterstützen. Er hat sich in drei Ausschüsse wählen lassen und nimmt regelmäßig an den Fraktionssitzungen seiner Partei teil.

    "Außer dass man ein bisschen disziplinierter mit sich selbst umgeht, würde ich sagen, ist da gar keine große Veränderung. – Wenn ich mit Martin was Ausführlicheres bereden will, und keine Dolmetscherin ist dabei, dann tippen wir einfach auf dem iPad oder auf dem iPhone."

    Seine Parteifreunde und –freundinnen haben sich schnell auf ihn eingestellt: den guten, alten Flipchart haben sie sogar wieder aus der Kammer hervorgekramt. Zentrale Begriffe, die in der Fraktionssitzung fallen, werden auf der Tafel protokolliert. Für Martin Zierold eine optische Hilfe, Ordnung in die manchmal etwas chaotischen Diskussionen zu bekommen.

    Zierold sitzt genau in der Mitte des Raumes. Von diesem Platz aus haben seine wachen Augen alles im Blick. Ihm gegenüber sitzen zwei Gebärdensprachdolmetscher, die sich beim Übersetzen abwechseln. Ist Politik ein hartes Geschäft? Martin Zierold spreizt Daumen und kleinen Finger ab und wackelt mit der Hand. Die Gebärde für ja.

    "Es ist auf jeden Fall anstrengend, weil: Ich muss immer auf die Dolmetscher schauen, Hörende können, wenn sie wollen, auch einfach mal abschalten, mal in die Weltgeschichte schauen und kriegen trotzdem noch Infos mit, aber ich muss halt die ganze Zeit auf die Dolmetscher schauen. Deswegen habe ich mir auch gewünscht, dass wir zwischendrin fünf bis zehn Minuten auf jeden Fall eine Pause machen, sowohl für die Dolmetscher, aber auch für mich."

    Und wenn dann irgendwann doch alle durcheinanderreden, was vor allem in den Bezirksverordnetenversammlungen häufiger geschieht, stößt Martin Zierold kurze, kehlige Rufe aus.

    Sein Einwurf kann wie ein Ordnungsruf wirken. Viele Parlamentarier hätten sich schon an ihn und seine Behinderung gewöhnt, erzählt er, er selbst habe aber noch Gewöhnungsbedarf. Und zwar an die Diskussionskultur in der Politik.

    "Es ist was anderes, ob man mit Hörenden oder mit Gehörlosen in einer Sitzung sitzt. Bei Gehörlosen, die haben ihre Art und Weise, sich direkt auszudrücken. Wenn man hierher kommt, denkt man, die schwimmen doch die ganze Zeit im Nebel oder irgendwo herum und kommen nie zu Potte. Man fragt sich, was das Thema eigentlich ist, sie reden die ganze Zeit und irgendwann, aha okay, das ist das Thema, um was es geht. Also: Ich warte eigentlich die ganze Zeit."

    Martin Zierold ist jung, dynamisch, direkt. Er mag die Politik, vor allem mag er die Plattform, die sie ihm jetzt bietet. Deshalb hat er sich sehr darüber gefreut, von seiner Partei in die Bundesversammlung delegiert worden zu sein. Er wird den neuen Bundespräsidenten mitwählen. Auf der letzten Fraktionssitzung der Bezirksgrünen in Berlin-Mitte ist es das Thema kurz vor Feierabend.

    "Erstmal finden wir, das ist eine tolle Kiste, dass du von uns da hingehst, und wir wünschen uns alle von Herzen, dass du den richtigen Bundespräsidenten wählst."

    Flink fliegen Martin Zierolds Hände durch die Luft. Er gebärdet seinen Parteikollegen, dass er Phoenix angeschrieben habe mit der Bitte, der Fernsehsender möge die Versammlung zur Wahl des Bundespräsidenten mittels eines eingeblendeten Gebärdensprachdolmetschers übertragen.

    "Ja, genau. Die Liveübertragung soll von allen sichtbar sein und auch für Gehörlose sichtbar sein. Und wenn die mich wieder ignorieren, dann werde ich mich öffentlich beschweren. Also das muss so sein."

    Martin Zierold stößt seine Fäuste gegeneinander. Die Gebärde für 'sich beschweren'. Der Blick in die irritierten Gesichter seiner Parteifreunde zeigt: so ganz verstehen sie das Problem nicht, können es nicht verstehen, sie sind nicht taub, es betrifft sie nicht.

    "Aber du wirst dich hoffentlich nicht so beschweren, dass die Wahl des Bundespräsidenten dann nicht stattfindet, oder nicht?"

    Großes Gekehle und Gelächter.

    ARD und Phoenix haben inzwischen mitgeteilt, sie werden keinen Gebärdensprachdolmetscher einblenden, sondern die Bundesversammlung lediglich untertiteln.

    Martin Zierold wird die Politik weiter als Plattform für seine Forderungen nutzen. Und davon träumen, dass die Gebärdensprache - neben Deutsch - zweite Amtssprache wird. Im Kleinen macht er Fortschritte: Fünf Minuten vor jeder Fraktionssitzung übt er mit seinen Parteifreunden drei neue Vokabeln. In Gebärdensprache.