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Finnische Schweigekultur
Kurzer Small Talk reicht

Kaum Small Talk, kurze und effiziente Verhandlungen, wenige offene Worte in persönlichen Gesprächen: Dieses Klischee haftet den Finnen an - auch weil Regisseur Aki Kaurismäki es in seinen Filmen auf die Spitze treibt. Doch was ist dran am Bild der schweigenden Finnen?

Von Jenni Roth | 16.12.2019
Eine Frau geht auf eine rote Holzhütte im Wald bei Kuopio in Finnland zu
Ein finnischer Gedanke: Wenn du schweigen kannst, bist du mit dir im Reinen. (Imago/ Westend61)
"Ich war schon paar Wochen nicht mehr in einem deutschen Café, aber ich glaub, da sitzen die Leute auch mit Tablet vor sich da."
Ich treffe Roman Schatz in einem Café am Hafen in Helsinki. Schatz kennt in Finnland jeder: Als er vor 30 Jahren hierherzog, lernte er so schnell und so gut Finnisch, dass er schon bald Kolumnen und Romane schrieb und eine eigene Talkshow hatte. Die Finnen lieben ihn – weil er ihnen den Spiegel vorhält, ihnen erklärt, wie sie sind. Und vielleicht, weil er selbst anders ist. Er redet gern und viel, die Ellbogen auf dem Tisch aufgestützt. Kein künstlicher Abstand. Also nicht ganz typisch finnisch – wenn es denn überhaupt stimmt, dass die Finnen so distanziert und verschwiegen sind.
"Jedes Klischee hat ja einen wahren Kern. Wenn man sich vorstellt, dass Finnland immer noch ein dünn besiedeltes und flächenmäßig großes Land ist, mit 190.000 Seen und Inseln, wenige Menschen, große Distanzen, schwieriges Terrain, unzugängig, ist ja klar, dass sich nicht dieselbe Smalltalk-Kultur herausgebildet hat wie in Spanien oder Italien. Das finnische Schweigen ist so echt und so unecht, so legendär und real wie das Jodeln und die Lederhosen in Deutschland."
Aki Kaurismäki übertreibt das finnische Klischee
Bestimmt ist auch "Nationalregisseur" Aki Kaurismäki nicht ganz unschuldig am Klischee. Viele Worte werden nicht gemacht in seinen Filmen. Mal eine Silbe sagen, mal eine Braue runzeln. Ansonsten: sich anstarren, schweigen.
"Kaurismäki, der hat das exportiert, 15 Prozent übertrieben. Dieses Klischeemäßige aus den Kaurismäki-Filmen, das gibt‘s nicht mehr in Finnland. Erstens hat Finnland, seit es zur EU gehört, einen riesigen Influx an Einwanderern gehabt, es gibt immer mehr mehrsprachige Zuwanderer, Hybridkulturen. Und auch der Lifestyle hat Einzug gehalten. Wenn ich Schuhe kaufen gehe im Laden, wünscht man mir einen schönen Tag und fragt mich, wie es mir geht. Diese Bedienkultur, die fühlt sich völlig unecht an, wie auswendig gelernt und aufgesetzt."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Das stille Finnland - Die Tugend des Schweigens in Politik und Alltag.
"Finnische Männer küssen nicht und sie sprechen nicht", heißt es. Und auch das - nicht ohne Grund in einem Land, das bis vor 40 Jahren ein Agrarstaat war.
"In einem Land, in dem jeder für sich selbst sorgen musste, mit 'ner Axt, der Machete unterm Arm im finnischen Urwald sozusagen, mit Wölfen und Bären, da hat sich eine Höflichkeitskultur entwickelt, wo‘s drauf ankommt, andere Leute in Ruhe zu lassen."
Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki in Madrid (Spanien) anlässlich einer Retrospektive seines Werks mit Filmen wie "Leningrad Cowboys Go America" oder "I Hired a Contract Killer"
Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki (picture alliance / epa / Chema Moya)
Wie viel jemand sagt, hängt von der Persönlichkeit ab
Und mit diesem Verhalten beschäftigt sich auch die Forschung. Liisa Tiittula zum Beispiel, emeritierte Sprachwissenschaftlerin an der Uni Helsinki. Sie spricht gern und offen. Über das Schweigen sowieso. "Als ich das erste Mal Kaurismäki gesehen habe – ich fand's furchtbar. Und so unfinnisch! Bis ich verstanden habe, er überzieht, er macht das mit Absicht. Interessant, dass das dann als typisch finnisch verkauft wird."
Liisa Tiittula findet: Es gibt nicht den Finnen, die Kommunikationskultur oder den Unterschied zwischen Frauen und Männern. Wie viel und was jemand sagt, hänge immer von der Persönlichkeit ab, von der Situation, ob Stadt oder Land. Nur: Gibt es nicht doch eine Tendenz? Als mich einmal in Lappland beim Trampen drei Jungs in einem Paketwagen mitnahmen, wurde außer Hallo und wohin nicht viel gesprochen. Fünf Stunden lang – ohne dass es unangenehm geworden wäre.
"Wenn die was gesagt hätten, hättest du dir nichts dabei gedacht. Aber weil sie nichts gesagt haben, denkst du: Wie typisch! Das ist immer so, wenn man was findet, was ein Stereotyp bestätigt."
Sprachwissenschaftlerin Liisa Tiittula in ihrem Büro
Sprachwissenschaftlerin Liisa Tiittula spricht gern und offen - auch über das Schweigen (Deutschlandradio/ Jenni Roth)
Die Grammatik spielt eine Rolle
Fakt ist: Die finnische Grammatik ist so beschaffen, dass man mit sehr wenigen Silben sehr viel sagen kann. Dementsprechend kurz darf und kann auch der Small Talk sein. Wissenschaftler sprechen dabei von einer "High Context"-Gesellschaft, erläutert Roman Schatz:
"Der Small Talk kann vier Worte kurz sein: 'Und, wie? - So halt.' Und dann hat man sich alles Gute gewünscht, seine Freundschaft bestätigt, und nach der Familie gefragt – ohne das alles zu erklären. In Deutschland muss man zwei Minuten miteinander reden. Und in USA, die typische Low-Context-Gesellschaft, die brauchen fünf Minuten."
Und auch wenn die Forscherin Tiittula darauf beharrt, dass Finnen nicht mehr oder weniger schweigen als andere Europäer: Wie höflich oder unhöflich das wahrgenommen wird, dürfte immer noch ein Unterschied sein, meint der Wahlfinne Roman Schatz:
"Ein schönes Beispiel für finnische Schweigekultur, sofern sie noch existiert, ist: Entschuldigung. Wenn ein Finne einem auf dem Fuß steht, kann es sein, dass er nix sagt, wegguckt und verschwindet. Das heißt nicht, dass er aggressiv unhöflich wäre. Sondern: Jetzt bin ich dem Mann auf den Fuß getreten, hab‘ ihn also schon genug behelligt, jetzt werde ich nicht noch Schlimmeres tun und ihn anlabern und mich gar bei ihm entschuldigen. Ich tu‘ einfach so, als wäre nichts passiert, sondern minimiere den entstandenen Schaden. Aber das kann jemand, der aus Deutschland kommt, nicht verstehen und das wirkt dann knüppelhart."
Gemeinsam schweigen beim Silent Dinner
Ein Experiment in Sachen Schweigen macht die Künstlerin Nina Backman mit ihren Silent Dinners. Das Konzept: 20 Leute, die sich nicht kennen, sitzen bei einem mehrgängigen Menü zusammen. Dabei und vor allem: kein Wort, kein Smalltalk. Schauen, was passiert. Erst die Sesamstangen, die laut zwischen den Zähnen krachen. Und jetzt der Blumenkohl: Es klingt beinahe brutal, wie 20 Löffel taktlos versuchen, die weißen Röschen in der Suppe zu zerteilen. Dabei fällt es den Finnen weniger schwer, einfach mal nichts zu sagen, hat auch Nina Backman beobachtet:
"Es ist so ein finnischer, vielleicht nordischer Gedanke: Wenn du schweigen kannst, bist du mit dir im Reinen. Es verrät viel über eine Person, wenn sie nicht mit sich still sein kann."