Einen großen Finnwal seziert man nicht alle Tage. Für den Anatom Wayne Vogl von der Universität von British Columbia im kanadischen Vancouver bot sich diese Gelegenheit gleich mehrfach - durch Kooperation mit einer kommerziellen Walfangstation auf Island. Gemeinsam mit Forscherkollegen ging er der Frage nach, wie verschiedene Walarten körperlich an ihre besonderen Ernährungsweisen angepasst sind. Beim Herauspräparieren der anatomischen Strukturen im Kehlsack eines Finnwales kam es zu einer eindrücklichen Szene. Wayne Vogl erinnert sich:
"Einer meiner Kollegen nahm diese dicke, weiße, kordelartige Struktur in die Hand und zog daran. Es war wie ein Bungee-Seil. Es dehnte sich bis auf die zweifache Länge. Danach zog es sich wieder auf seine Ursprungslänge zusammen. Wir schauten uns an und dachten: Wow, das ist aber interessant. Das muss eine Arterie sein oder so etwas. "
Bei genauerer Analyse stellte sich der nahezu fingerdicke Strang allerdings als etwas anderes heraus. Es war ein Nerv, so Vogl:
"Dieser Nerv war anders als jeder andere Nerv, den ich jemals gesehen hatte. Bei den meisten Nerven, etwa aus unseren Armen oder Beinen - wenn man daran zieht, dann strecken sie sich höchstens ein kleines Bisschen. Sie sind eher wie ein festes Seil. Aber dieser Nerv war wie ein Gummiband. Diese Eigenschaft muss sich als Anpassung an die Nahrungsaufnahme entwickelt haben."
80.000 Liter Wasser in einem Schluck
Finnwale gehören zu den sogenannten Furchenwalen, einer Untergruppe der Bartenwale. Ihren Namen hat die Walfamilie von den Längsfurchen, die von der Kehle über die Brust bis zum Bauchnabel in der Körpermitte führen. Sie sorgen dafür, dass sich der Kehlsack enorm weiten kann, wenn die Wale zum Fressen ihr Maul öffnen. Finnwale nehmen in wenigen Sekunden rund 80.000 Liter Wasser in ihren dehnbaren Kehlsack auf. Dieses Volumen ist größer als die Tiere selbst. Aus dem Wasser filtern sie dann mit ihren Barten Krill und andere kleine Meerestierchen. Wayne Vogl:
"Wenn die Wale diese riesige Wassermenge voller Beute in ihrem Maul haben, sehen sie aus wie ein schwangerer Guppy. Sie verändern ihre Proportionen vollkommen. Es ist schon eine einzigartige Art zu Fressen."
Elastische Nervenstränge
Und diese einzigartige Ernährungsweise braucht auch einzigartige Nerven. Wayne Vogl fand heraus, dass die dehnbaren Walnervenstränge zum größten Teil aus einer dicken Hülle aus gummiartigen Elastinfasern bestehen. Nur im Kern liegen die eigentlichen Nervenfasern, und zwar stark gefaltet, sodass sie sich beim Dehnen des Kehlsackes schadlos auseinander- und auch wieder zusammen falten können. Letzten Endes aber, so Wayne Vogl, sei dieser Aufbau auch nur eine Abwandlung herkömmlicher Nervenstrukturen:
"Wenn man sich die dehnbaren Nerven anschaut, so haben sie nichts, was man nicht auch in anderen Nerven findet. Sie sind nur anders zusammengesetzt. Menschliche Nerven bestehen hauptsächlich aus einem Bündel aus Nervenfasern mit einer dünnen Bindegewebshülle. Bei den Walen hingegen bilden die Nervenfasern nur einen kleinen Kern, während der Rest der Struktur aus dehnbarem Bindegewebe besteht."
Wayne Vogl sieht darin ein faszinierendes Werk der Evolution. Ohne dehnbare Nerven hätten die Furchenwale niemals eine Jagdtechnik entwickeln können, bei der sie mit ihrem Kehlsack wie mit einem riesigen Kescher durch die Krillschwärme im Wasser pflügen.