Peter Kapern: Die Institution, um die es jetzt geht, hat in ihrer langen Geschichte viele schmeichelhafte Beinamen erhalten: zum Beispiel "Pantheon des Geistes" oder "Schatzkammer der deutschen Literatur". Gemeint ist das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Manchmal musste es sich aber auch Häme gefallen lassen, zum Beispiel vom berühmtesten Reporter der Weimarer Republik, von Egon Erwin Kisch. Er fand es "lächerlich, in diesem Naturschutzpark der Geistlichkeit mit seinem Geniekult ein Leben in Spiritus zu konservieren". Längst vergessen dieser Spott, in den vergangenen zwei Jahren ist das Goethe- und Schiller-Archiv aufwendig renoviert und erweitert worden und heute wird es wiedereröffnet. Und am Telefon bei uns ist nun zum Auftakt seines sicherlich aufregenden Arbeitstags der Direktor des Archivs, Bernhard Fischer. Guten Morgen, Herr Fischer.
Bernhard Fischer: Guten Morgen!
Kapern: Herr Fischer, was wird anders sein, wenn das Goethe- und Schiller-Archiv heute wieder seine Türen öffnet - nur frische Farbe?
Fischer: Nein, natürlich nicht. Es soll viel einladender sein, da trägt die Farbe natürlich zu bei, aber insgesamt haben wir für Benutzer und für Gäste einfach viel mehr Möglichkeiten. Wir haben mittlerweile doch erheblich ein erheblich größeres Lesesaal-Angebot mit über 40 Plätzen, wir haben einen wunderbar restaurierten Mittelsaal, von dem man aus wieder zurückblicken kann in den Nord- und Südsaal, die alte Saalfolge ist dort deutlich geworden, und das Haus ist einfach perfekt eingerichtet für alle unsere Bedürfnisse und für alle Bedürfnisse von Gästen und Forschern.
Kapern: Noch bessere Voraussetzungen also für den Geniekult, dessen Betreiben Kisch dem Archiv vorgeworfen hat?
Fischer: Na ja. Also die Aufgabe von Archiven besteht ja nicht so sehr im Kult, sondern eher in so einer Art von kritischer Befragung auch des Kanons. Natürlich sind wir eine Institution des Kanons. Wenn man die Nachlässe von Goethe, von Schiller, Herder, Wieland, aber nicht zuletzt eben auch Friedrich Nietzsche im Haus hat, dann bedeutet das, dass man die Verpflichtung hat, den Kanon zu pflegen und gleichzeitig in gewisser Weise mit Nietzsch'em Geist zu befragen: prägt's, taugt's auch für die Gegenwart, ist es noch aktuell. Und manchmal führt es doch zu Revisionen auch und die Geschichte des Goethe- und Schiller-Archivs hat ja auch solche Revisionen erlebt. Das bedeutet zum Beispiel eben auch, solche Geister wie Büchner gehören zum Bestand. Der hätte unter Goethe nicht dazugehört.
Kapern: Was antworten denn die Nachlässe noch, wenn man sie befragt? Ist über Goethe und Schiller nicht längst alles gesagt und geschrieben?
Fischer: In vielen Fällen geht es gar nicht mal um das, was gesagt wird, sondern es geht erst mal darum, dass wir Zeugen haben von Produktionsprozessen, von Werkgenesen, oder auch von Korrespondenzen, die so, wie sie da liegen, als materiale Hinterlassenschaft ihre eigene Sprache reden und sehr oft sehr viel sinnlicher und anschaulicher sind als alles bedruckte Papier, was dann in den großen Ausgaben und Editionen vor den Augen erscheint. Es spricht zu uns ganz erlebnishaft und wir werden teilhaftig doch einer gewissen Präsenz - "Aura" nannte das Benjamin. Da ist noch etwas, was uns anspricht und aus dem wir lernen können, was einfach in Buchform nicht in der Form anschaulich wird.
Kapern: Aber was ist das genau, Herr Fischer? Was entdecken aktuelle, derzeitige Forscher, wenn sie sich in diese Archive begeben, was nicht längst schon in den überschlagen 130 Jahren, die Ihr Archiv existiert, erarbeitet worden ist?
Fischer: Zunächst mal ist der Gesamtbestand ja nur zum Teil überhaupt ediert. Das heißt, 80 bis 90 Prozent des Gesamtbestandes von unseren mittlerweile fünf Millionen Blatt Papier sind eher mit dem berühmtem fünf Sechsteln des Eisbergs zu vergleichen, die noch unter der Wasseroberfläche liegen und in denen man immer wieder Neues entdecken muss, weil es einfach in der Form noch nicht so bekannt ist.
Kapern: Das heißt aber, Herr Fischer, Sie schließen nicht aus, dass dort etwas so Sensationelles passiert, wie das kürzlich den Forschern in der Münchener Universitätsbibliothek unterlaufen ist, die dort ein weiteres Exemplar der Waldseemüller-Karte aus dem 16. Jahrhundert entdeckt haben?
Fischer: Ich würde mal so eine Sensation doch ausschließen, denn die haben die Waldseemüller-Karte ja auch nicht im einfachen Bestand entdeckt, sondern in einem Umschlag, das heißt doch den Augen komplett verborgen. Dafür sind wir dann doch zu gut organisiert und haben die Bestände eigentlich sehr gut verzeichnet. Also so ganz große Sensationen darf man nicht erwarten. Es sind eher die Sensationen der Kontexte, und da ist es doch eigentlich so, dass mit jeder neuen Gegenwart auch sich die Geschichte ändert. Wenn ich mir das digitale Zeitalter, was jetzt ja angebrochen ist, anschaue, dann hat das auf der anderen Seite zur Konsequenz, dass die Spuren der Materialität, das heißt, des Papiers, ganz anders wahrgenommen werden als vor 50 Jahren noch. Damals hat man eigentlich nicht danach gefragt, was für ein Papier war das, welches Format hat das, welcher Beschreibstoff wurde gewählt, ist das jetzt Bleistift, oder ist das Tinte, ist das mit der Feder geschrieben worden.
Kapern: Ist das alles wesentlich?
Fischer: Ja, das ist alles wesentlich. Das gehört zur Schreibkultur einer Epoche dazu und gibt uns Informationen über den sozialen Umgang und in gewisser Weise auch über die Wertschöpfung von Handschriften. Das gehört zur Geschichte der Geschichte in gewisser Weise.
Kapern: Herr Fischer, wer forscht bei Ihnen? Interessieren sich für Goethe, Schiller und all die anderen Gelehrten, deren Papiere Sie dort verwahren, nur die Deutschen, oder ist das ein internationales Publikum?
Fischer: Es ist ein internationales Publikum. Goethe ist ohnehin Weltliteratur und nicht zuletzt hat die Unesco ja auch den goetheschen Nachlass bei uns, und das sind etwa 250.000 Blatt Papier, zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Aber das betrifft in gleichem Maße auch Franz Liszt etwa oder Friedrich Nietzsche. Das ist eine internationale Gemeinschaft, die da zusammengefunden hat und sich zusammenfindet, um bei uns zu forschen.
Kapern: Sie verwahren dort, habe ich gelesen, 130 Nachlässe von Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern, außerdem Archive von Verlagen und Literaturgesellschaften. Aber ein Archiv lebt doch eigentlich nur, wenn es auch neue Archivalien erschließen kann. Sind Sie auf der Suche nach weiteren Nachlässen?
Fischer: Also wir wollen unseren Kollegen in Marbach in keiner Weise ins Gehege kommen. Mit denen verkehren wir wirklich kollegial und auf bestem Fuße und die machen die Gegenwartsliteratur. Aber in unserem Kernbereich, das heißt in dem Bestand von 1750 bis 1900 etwa, da suchen wir eigentlich immer nach Einzelstücken oder kleinen Teilnachlässen, wenn es die noch gibt, um unseren Bestand zu arrondieren. Und in der Tat: Es gibt eigentlich immer wieder Neues, in jedem Jahr finden wir etwa gänzlich unbekannte unpublizierte Goethe-Briefe, drei, vier Stück, die wir für unseren Bestand dann sichern können.
Kapern: Bernhard Fischer war das, der Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, das heute nach einer zweijährigen Restaurierung und Renovierung wiedereröffnet wird. Herr Fischer, danke für das Gespräch und einen schönen Tag heute.
Fischer: Ich habe zu danken. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bernhard Fischer: Guten Morgen!
Kapern: Herr Fischer, was wird anders sein, wenn das Goethe- und Schiller-Archiv heute wieder seine Türen öffnet - nur frische Farbe?
Fischer: Nein, natürlich nicht. Es soll viel einladender sein, da trägt die Farbe natürlich zu bei, aber insgesamt haben wir für Benutzer und für Gäste einfach viel mehr Möglichkeiten. Wir haben mittlerweile doch erheblich ein erheblich größeres Lesesaal-Angebot mit über 40 Plätzen, wir haben einen wunderbar restaurierten Mittelsaal, von dem man aus wieder zurückblicken kann in den Nord- und Südsaal, die alte Saalfolge ist dort deutlich geworden, und das Haus ist einfach perfekt eingerichtet für alle unsere Bedürfnisse und für alle Bedürfnisse von Gästen und Forschern.
Kapern: Noch bessere Voraussetzungen also für den Geniekult, dessen Betreiben Kisch dem Archiv vorgeworfen hat?
Fischer: Na ja. Also die Aufgabe von Archiven besteht ja nicht so sehr im Kult, sondern eher in so einer Art von kritischer Befragung auch des Kanons. Natürlich sind wir eine Institution des Kanons. Wenn man die Nachlässe von Goethe, von Schiller, Herder, Wieland, aber nicht zuletzt eben auch Friedrich Nietzsche im Haus hat, dann bedeutet das, dass man die Verpflichtung hat, den Kanon zu pflegen und gleichzeitig in gewisser Weise mit Nietzsch'em Geist zu befragen: prägt's, taugt's auch für die Gegenwart, ist es noch aktuell. Und manchmal führt es doch zu Revisionen auch und die Geschichte des Goethe- und Schiller-Archivs hat ja auch solche Revisionen erlebt. Das bedeutet zum Beispiel eben auch, solche Geister wie Büchner gehören zum Bestand. Der hätte unter Goethe nicht dazugehört.
Kapern: Was antworten denn die Nachlässe noch, wenn man sie befragt? Ist über Goethe und Schiller nicht längst alles gesagt und geschrieben?
Fischer: In vielen Fällen geht es gar nicht mal um das, was gesagt wird, sondern es geht erst mal darum, dass wir Zeugen haben von Produktionsprozessen, von Werkgenesen, oder auch von Korrespondenzen, die so, wie sie da liegen, als materiale Hinterlassenschaft ihre eigene Sprache reden und sehr oft sehr viel sinnlicher und anschaulicher sind als alles bedruckte Papier, was dann in den großen Ausgaben und Editionen vor den Augen erscheint. Es spricht zu uns ganz erlebnishaft und wir werden teilhaftig doch einer gewissen Präsenz - "Aura" nannte das Benjamin. Da ist noch etwas, was uns anspricht und aus dem wir lernen können, was einfach in Buchform nicht in der Form anschaulich wird.
Kapern: Aber was ist das genau, Herr Fischer? Was entdecken aktuelle, derzeitige Forscher, wenn sie sich in diese Archive begeben, was nicht längst schon in den überschlagen 130 Jahren, die Ihr Archiv existiert, erarbeitet worden ist?
Fischer: Zunächst mal ist der Gesamtbestand ja nur zum Teil überhaupt ediert. Das heißt, 80 bis 90 Prozent des Gesamtbestandes von unseren mittlerweile fünf Millionen Blatt Papier sind eher mit dem berühmtem fünf Sechsteln des Eisbergs zu vergleichen, die noch unter der Wasseroberfläche liegen und in denen man immer wieder Neues entdecken muss, weil es einfach in der Form noch nicht so bekannt ist.
Kapern: Das heißt aber, Herr Fischer, Sie schließen nicht aus, dass dort etwas so Sensationelles passiert, wie das kürzlich den Forschern in der Münchener Universitätsbibliothek unterlaufen ist, die dort ein weiteres Exemplar der Waldseemüller-Karte aus dem 16. Jahrhundert entdeckt haben?
Fischer: Ich würde mal so eine Sensation doch ausschließen, denn die haben die Waldseemüller-Karte ja auch nicht im einfachen Bestand entdeckt, sondern in einem Umschlag, das heißt doch den Augen komplett verborgen. Dafür sind wir dann doch zu gut organisiert und haben die Bestände eigentlich sehr gut verzeichnet. Also so ganz große Sensationen darf man nicht erwarten. Es sind eher die Sensationen der Kontexte, und da ist es doch eigentlich so, dass mit jeder neuen Gegenwart auch sich die Geschichte ändert. Wenn ich mir das digitale Zeitalter, was jetzt ja angebrochen ist, anschaue, dann hat das auf der anderen Seite zur Konsequenz, dass die Spuren der Materialität, das heißt, des Papiers, ganz anders wahrgenommen werden als vor 50 Jahren noch. Damals hat man eigentlich nicht danach gefragt, was für ein Papier war das, welches Format hat das, welcher Beschreibstoff wurde gewählt, ist das jetzt Bleistift, oder ist das Tinte, ist das mit der Feder geschrieben worden.
Kapern: Ist das alles wesentlich?
Fischer: Ja, das ist alles wesentlich. Das gehört zur Schreibkultur einer Epoche dazu und gibt uns Informationen über den sozialen Umgang und in gewisser Weise auch über die Wertschöpfung von Handschriften. Das gehört zur Geschichte der Geschichte in gewisser Weise.
Kapern: Herr Fischer, wer forscht bei Ihnen? Interessieren sich für Goethe, Schiller und all die anderen Gelehrten, deren Papiere Sie dort verwahren, nur die Deutschen, oder ist das ein internationales Publikum?
Fischer: Es ist ein internationales Publikum. Goethe ist ohnehin Weltliteratur und nicht zuletzt hat die Unesco ja auch den goetheschen Nachlass bei uns, und das sind etwa 250.000 Blatt Papier, zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Aber das betrifft in gleichem Maße auch Franz Liszt etwa oder Friedrich Nietzsche. Das ist eine internationale Gemeinschaft, die da zusammengefunden hat und sich zusammenfindet, um bei uns zu forschen.
Kapern: Sie verwahren dort, habe ich gelesen, 130 Nachlässe von Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern, außerdem Archive von Verlagen und Literaturgesellschaften. Aber ein Archiv lebt doch eigentlich nur, wenn es auch neue Archivalien erschließen kann. Sind Sie auf der Suche nach weiteren Nachlässen?
Fischer: Also wir wollen unseren Kollegen in Marbach in keiner Weise ins Gehege kommen. Mit denen verkehren wir wirklich kollegial und auf bestem Fuße und die machen die Gegenwartsliteratur. Aber in unserem Kernbereich, das heißt in dem Bestand von 1750 bis 1900 etwa, da suchen wir eigentlich immer nach Einzelstücken oder kleinen Teilnachlässen, wenn es die noch gibt, um unseren Bestand zu arrondieren. Und in der Tat: Es gibt eigentlich immer wieder Neues, in jedem Jahr finden wir etwa gänzlich unbekannte unpublizierte Goethe-Briefe, drei, vier Stück, die wir für unseren Bestand dann sichern können.
Kapern: Bernhard Fischer war das, der Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, das heute nach einer zweijährigen Restaurierung und Renovierung wiedereröffnet wird. Herr Fischer, danke für das Gespräch und einen schönen Tag heute.
Fischer: Ich habe zu danken. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.