Update (25.12.2020): Die Europäische Union und Großbritannien haben sich doch noch auf Regeln für die künftigen Handelsbeziehungen geeinigt. Beide Seiten zeigten sich mit dem Erreichten zufrieden. Wegen des zu engen Zeitplans für eine schnelle Ratifizierung soll der Vertrag im Januar zumindest schon einmal vorläufig in Kraft treten.
Bei den Brexit-Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien gab es drei drei zentrale Streitpunkte: den künftigen Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern, die Forderung der EU nach gleichen Wettbewerbsbedingungen - also gleichen Sozial-, Umwelt- und Beihilfestandards, im Gegenzug für weiteren Zugang zum EU-Binnenmarkt -, und ein Streitschlichtungsmechanismus bei Verstößen gegen das Abkommen.
- Worum geht es bei den Verhandlungen?
- Welches Verhandlungsziel hat die EU?
- Welches Verhandlungsziel hat das Vereinigte Königreich?
- Was heißt die Wahl Joe Bidens zum neuen US-Präsidenten für die Brexit-Verhandlungen?
- Warum ist das "Level Playing Field" so umstritten?
- Welche Rolle spielt das Thema "Fischerei" bei den Gesprächen?
- Warum stehen die Gespräche unter solch hohem Zeitdruck?
- Was geschieht, wenn die Verhandlungen scheitern?
Am 31. Januar 2020 hat das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen. Zuvor hatten beide Seiten einen Vertrag über die Bedingungen dieses Austritts ausgehandelt: den Scheidungsvertrag. Er legte zum Beispiel fest, welche Summen London noch in die EU-Kassen einzahlen muss und welche Rechte die Bürger beider Seiten nach dem Austritt auf der jeweils anderen Seite des Kanals haben. Außerdem wurde eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2020 vereinbart, innerhalb derer das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU fast unverändert ist: London ist weiterhin Teil des EU-Binnenmarkts, der Zollunion und aller Verträge, die die Europäische Union geschlossen hat. Nur eines kann London innerhalb der Übergangsfrist nicht mehr tun: die Geschicke der EU mitbestimmen. Es gibt keine britischen Abgeordneten im Europaparlament mehr, auch keinen britischen EU-Kommissar. Und britische Minister nehmen nicht mehr an den Beratungen des Rates teil.
Diese Übergangszeit wurde vereinbart, damit beide Seiten ein Abkommen aushandeln können, dass die Beziehungen zwischen der EU und der britischen Insel nach der Übergangsfrist regelt. Dabei geht es nicht nur um die Handelsbeziehungen, sondern um ein viel umfassenderes Vertragspaket, das zum Beispiel auch die Kooperation im Transportbereich, bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus und die Zusammenarbeit in der Außen- und Verteidigungspolitik bestimmt.
Die Regierungen der 27 EU-Mitgliedstaaten haben ihrem Chefunterhändler Michel Barnier ein präzises Verhandlungsmandat mit auf den Weg gegeben. Darin wird London auf dem wichtigsten Verhandlungsfeld, dem der künftigen Handelsbeziehungen, eine dreifache Null-Lösung angeboten: null Zölle, null Quoten, null Dumping. Damit wäre der Zugang zum EU-Binnenmarkt für britische Industriegüter so unlimitiert wie für kein anderes Drittland, mit dem die EU bislang Handelsverträge abgeschlossen hat.
Die Bedingung für diesen unbeschränkten Zugang – null Dumping – hat es aber in sich. Denn Brüssel verlangt, dass London vertragliche Vereinbarungen unterschreibt, die festlegen, dass sich das Vereinbarte Königreich keine unfairen Wettbewerbsvorteile verschafft, indem es beispielsweise staatliche Subventionen für Unternehmen hochfährt, den Umweltschutz und Sozialstandards aber absenkt. Brüssel verlangt also eine Vereinbarung über faire Wettbewerbsregeln, ein sogenanntes Level Playing Field.
Auch London ist ganz besonders an einem Freihandelsabkommen interessiert, das Unternehmen, die auf der Insel beheimatet sind, den möglichst hürdenfreien Export in den europäischen Binnenmarkt ermöglicht. London strebt die Streichung aller Zölle und Quoten an. Aber die britische Regierung will keinesfalls ein Abkommen über die künftigen Wettbewerbsbedingungen unterzeichnen.
Mit ihrem neuen Binnenmarktgesetz hat die britische Regierung ihre europäischen Verhandlungspartner zudem sehr verärgert. London will mit diesem Gesetz den Handel innerhalb des gesamten Vereinigten Königreichs regeln, widerspricht damit aber Teilen des Brexit-Abkommens und verstößt auch gegen internationales Recht. Nachdem das Oberhaus dem Gesetz seine Zustimmung verweigert hat, liegt der Ball momenten wieder bei den Parlamentariern des Unterhauses. Das Ganze könnte sich zu einem Ping-Pong-Spiel zwischen beiden Kammern entwickeln.
Der britische Premier Boris Johnson hatte lange auf eine Wiederwahl Donald Trumps zum nächsten US-Präsidenten gehofft. Dem gewählten neuen Präsidenten Joe Biden ist er noch nie begegnet und hatte bis zuletzt auch keine Kontakte zu dessen Team geknüpft,
berichtet London-Korrespondentin Christine Heuer
. Inzwischen gratulierte Johnson Biden zum Sieg und sagte, die USA seien und blieben der wichtigste Partner Großbritanniens.
Biden und seine demokratische Administration dürften sich allerdings gut daran erinnern, dass Johnson den demokarischen Ex-US-Präsident Barack Obama als "Halb-Kenianer mit angeborener Abneigung gegen die Briten" bezeichnet hatte, weil Obama gegen den Brexit war. Auch Biden lehnt den Brexit ab. Im Wahlkampf warnte er davor, dass Johnson mit seinem Binnenmarktgesetz den nordirischen Frieden riskiere. Trete dies ein, könne sich Johnson einen Handelsvertrag mit den USA aus dem Kopf schlagen.
Johnson erwägt angesichts des Wahlsiegs des EU-Sympathisanten Biden möglicherweise, das Binnenmarktgesetz zumindest abzuändern, weil es den nordirischen Friedenprozess gefährden könnte. Hintergrund ist, dass Irland eine große Lobby bei den US-Demokraten hat. Sie übt Druck auf Biden aus, ein Kassieren des Binnenmarktgesetzes zu erwirken.
Dlf-Korrespondentin Heuer schätzt, dass es unter einem US-Präsidenten Biden ungemütlich werden könnte für Johnson und seine bisherige Brexit-Politik. Das wiederum scheint dessen Befürwortung eines Brexit-Deals mit der EU größer werden zu lassen. Johnson betont inzwischen – ganz anders als noch vor Kurzem -, dass er schon immer ein großer Anhänger des Deals gewesen sei und dass man kurz vor einem Abschluss mit der EU stehe. Die Hardliner in Johnsons Konservativer Partei sind nach wie vor strikt gegen einen Brexit-Deal.
Eines der wichtigsten Argumente der Brexit-Befürworter war, dass das Vereinigte Königreich die volle Souveränität über seine Gesetze wiedererlangen solle. Vor diesem Hintergrund sind Wettbewerbsregeln, die in Brüssel mitbestimmt werden und über deren Einhaltung auch noch der auf der Insel so verhasste Europäische Gerichtshof wachen würde, für London inakzeptabel.
Zu diesem Souveränitätsgedanken kommt aber noch ein handfester wirtschaftlicher Grund: London fürchtet, dass sich mit der EU vereinbarte Standards auf die Handelsverträge auswirken, die das Vereinigte Königreich mit anderen Nationen schließen will. Ein Beispiel: Wenn der Vertrag mit der EU aus Verbraucherschutzgründen das Fleisch von Hormonkälbern ausschließt, würde das ein Handelsabkommen mit den USA erschweren, wo die Mästung von Kälbern mit Hormonen Alltag ist. Außerdem verweist London immer wieder auf das Freihandelsabkommen CETA, das die EU mit Kanada geschlossen hat. Darin gebe es keine strikten Festlegungen auf gemeinsame Wettbewerbsregeln, sagt die britische Regierung und zieht daraus den Schluss, dass die EU Großbritannien in Handelsfragen schlechter behandeln wolle als Kanada.
Das weist Brüssel zurück. Zum einen sei mit Kanada nur eine weitgehende, aber keine komplette Zoll- und Quotenfreiheit, vereinbart worden. Und zum anderen spielt für die EU die geographische Lage eine Rolle: Die britische Insel sei – anders als Kanada – dem europäischen Festland so nahe, dass sich Dumping etwa bei Umwelt- und Sozialstandards sehr schnell auswirken könne. Nämlich, indem europäische Unternehmen ihre Produktion auf die Insel verlagern. Die EU-Unterhändler werfen der britischen Seite vor, sich nicht an geschlossene Vereinbarungen halten zu wollen. In der "Politischen Erklärung", die gemeinsam mit dem Austrittsvertrag vereinbart wurde, ist nämlich in Kapitel 14 festgelegt, dass beide Seiten ein "Level Playing Field" vereinbaren werden. Und diese "Politische Erklärung" trägt auch die Unterschrift des britischen Regierungschefs Boris Johnson.
Und noch einen weiteren Vorwurf erhebt die EU-Seite: London betreibe Rosinenpickerei. Aus allen Freihandelsverträgen, die die EU je geschlossen habe, suche sich die britische Seite nur die für sie vorteilhaftesten Passagen heraus, um sie zu einem neuen Gesamtvertrag zusammenzusetzen. So ein "Best-of-Vertrag" würde Großbritannien alle Vorteile des EU-Binnenmarkts eröffnen, ohne dass London sich an den Kosten des Binnenmarkts beteiligen und die Freizügigkeit für EU-Bürger akzeptieren wolle.
Eine Frage die in den vermeintlich letzten Verhandlungsrunden mit im Zentrum steht: Wie geht man mit Vertragsverletzungen des jeweils anderen Partners um, sollten sie vorkommen? Die Klärung dieser Frage kann in normalen Freihandels-Verhandlungen Jahre einnehmen, hier hat man insgesamt sieben Monate dafür Zeit.
Die Fischereirechte werden – wenig überraschend – von der britischen Regierung als Hebel bei den Verhandlungen genutzt. Nach internationalem Seerecht steht einem Staat innerhalb der 200 Meilen seiner ausschließlichen Wirtschaftszone der gesamte Fischfang zu. Die EU hat das Recht, in britischem Hoheitsgebiet zu fischen, allerdings über Fangquoten auf weitere EU-Länder verteilt. Hunderte von Fischern aus Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Holland, Deutschland und Dänemark sind darauf angewiesen, auch künftig in den britischen Hoheitsgewässern fischen zu dürfen. Sonst könnten sie ihre Trawler verschrotten.
Deshalb verlangt Brüssel eine dauerhafte Vereinbarung über Fangquoten für EU-Fischer als Teil es Handelsabkommens. Das lehnt London strikt ab, wieder mit Verweis auf die neu erlangte nationale Souveränität. Fangquoten könnten allenfalls von Jahr zu Jahr neu ausgehandelt werden, und sie müssten weit niedriger liegen als bislang, so die britische Position. Die EU hingegen verweist darauf, dass britische Fischer den größten Teil ihres Fangs schon jetzt auf dem EU-Binnenmarkt verkaufen. Das könne aber nur so bleiben, wenn die EU dauerhafte Fangrechte in britischen Gewässern bekomme.
Der Austrittsvertrag sieht die Möglichkeit vor, die Übergangsphase einmalig um ein oder zwei Jahre zu verlängern. So könnte zusätzliche Zeit für die Verhandlungen gewonnen werden. Das aber hat Boris Johnson im vergangenen Unterhauswahlkampf ausgeschlossen. Er hat sogar ein Gesetz verabschieden lassen, das es der britischen Regierung, also ihm, verbietet, eine Verlängerung zu beantragen. Damit muss also bis Jahresende 2020 das gesamte Vertragspaket unter Dach und Fach sein.
Geplant war, dass bis Ende Oktober 2020 eine Vereinbarung zwischen London und Brüssel steht. So sollte gesichert werden, dass die nationalen Parlamente den Deal noch fristgerecht bis zum 31.12.2020 ratifizieren können. Dann gab die EU das Wochenende vom 14./15. November als Ziel für das Ende der Verhandlungen aus, danach sei eine ordnungsgemäße Ratifizierung nicht mehr möglich. Doch die Verhandlungen laufen weiter (Stand: 7.12.2020). Eine neue Frist haben weder die EU noch Großbritannien genannt.
Als mögliche Deadline gilt der EU-Gipfel am 10. Dezember. Steht bis dahin keine Einigung, dürfte sie formal kaum noch möglich sein. Der Vertragstext muss schließlich auch in alle 23 Amtssprachen übersetzt, juristisch geprüft und dann vom Europaparlament ratifiziert werden.
Sollte man sich nicht einigen, müssten beide Seiten ihren Handel nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO abwickeln. Diese Regeln dienen zwar einer Vereinfachung des Warenaustausches zwischen Ländern, sie beinhalten aber dennoch deutlich mehr Hürden als ein Freihandelsvertrag. Zum Beispiel enthalten sie viele unterschiedliche Zollsätze für unterschiedliche Warengruppen.
Die Folgen wären absehbar: Lkw würden sich wegen der Zollkontrollen stauen, Lieferketten von Unternehmen, die jetzt noch auf beiden Seiten des Kanals produzieren, würden gehemmt. Gravierender als das wäre aber wohl noch der politische Schaden, der durch ein Scheitern der Verhandlungen angerichtet würde. Es käme, so Experten, zwischen beiden Seiten wohl zu einer politischen Eiszeit.
In Brüssel gibt allerdings offenbar auch Überlegungen, die vom Vereinigten Königreich gesetzte Frist für ein Handelsabkommen, den 1. Januar, zu ignorieren. Für das denn entstehende Chaos beim Handel könnte man die Briten verantwortlich machen, hieß es. "Wenn es nicht zum 1. Januar klappt, heißt das nicht, dass es nicht zum 15. Januar oder 1. April oder 1. Juli klappt", hieß es aus EU-Diplomatenkreisen.