Die Situation an der Oder erscheint wieder dramatisch. Bestimmte Messwerte, die Auskunft über das Ökosystem des Flusses geben, sind Besorgnis erregend, sie gleichen denen aus dem Sommer 2022. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis es wieder zu einer Katastrophe kommt.
Laut Angaben des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) Ende Juni verendeten 2022 nach Schätzungen rund 1.000 Tonnen Fisch in dem Fluss. Die Zahlen liegen deutlich höher als bisher angenommen. Viele Fische konnten nicht vom Ufer abgesammelt werden, da sie etwa auf den Flussgrund sanken, wie es nun heißt. Bisher war man von rund 400 Tonnen toten Fischen, Muscheln und Schnecken ausgegangen.
- Was war die Ursache für das Fischsterben in der Oder im Jahr 2022?
- Haben sich die Fischbestände in der Oder nach der Katastrophe 2022 erholt?
- Wieso droht an der Oder im Jahr 2023 erneut ein großes Fischsterben?
- Was unternehmen Politik und Behörden?
- Was für ökologische Folgen hat der Ausbau der Oder?
Was war die Ursache für das Fischsterben in der Oder im Jahr 2022?
Nach Angaben eines deutschen Expertenberichts, der Ende September 2022 vorgelegt wurde, war die wahrscheinlichste Ursache für das Fischsterben in der Oder ein sprunghaft gestiegener Salzgehalt, der neben anderen Faktoren zu einer massiven Vermehrung der Brackwasseralge Prymnesium parvum führte. Diese Alge - auch Goldalge genannt - erzeugt eine giftige Substanz, die für Fische und andere Wasserorganismen tödlich sein kann. Hinzu kam außerdem, dass das Gewässer ohnehin durch die Klimakrise gestresst ist.
"Die Salzeinleitungen, die für die Massenvermehrung der Alge aus deutscher Sicht ausschlaggebend sind, finden in Polen statt", betont das Bundesumweltministerium. Laut Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) drängt die Zeit, um den hohen Salzgehalt in der Oder zu verringern. Dieser gehe wahrscheinlich auf Einleitungen des polnischen Bergbaus zurück. Doch bislang sei in Polen "kein Paradigmenwechsel zu erkennen", kritisiert Lemke: "Deshalb bleibt das Verhältnis angespannt."
Auch Ökologen und der EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkeviciushat haben polnische Bergbauaktivitäten als eine wichtige Ursache für den hohen Salzgehalt im Oderwasser benannt. Polen legte 2022 einen eigenen Bericht (auf polnisch) zu der Umweltkatastrophe vor und verwies dort vor allem auf die Alge als Verursacher des Fischsterbens.
Haben sich die Fischbestände in der Oder nach der Katastrophe 2022 erholt?
Nein. Fast ein Jahr nach der Umweltkatastrophe in der Oder fehlen in dem Fluss laut Analysen mehr als die Hälfte der Fische. Vor allem in der Strommitte der Oder nahmen die Fischbestände um 53 bis 67 Prozent ab, wie wissenschaftliche Untersuchungen zum Zustand des deutsch-polnischen Grenzflusses zeigen. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) bezeichnet die Situation als "bedrückend".
Trotz der alarmierenden Ergebnisse verweist das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) darauf, dass sich die Fischbestände innerhalb einiger Jahre erholen könnten – keine Fischart sei vollständig aus der Oder verschwunden, außerdem gebe es weiterhin große Laichfische. Voraussetzung für eine Erholung ist aber, dass sich die Katastrophe von 2022 nicht wiederholt.
Wieso droht an der Oder im Jahr 2023 erneut ein großes Fischsterben?
"Im Moment haben wir an der Oder wieder eine hohe Salzkonzentration, ähnlich hoch wie im Sommer letzten Jahres", sagte der Gewässerökologe Martin Pusch Anfang Juni 2023. Von daher sei die Möglichkeit einer erneuten Algenblüte, die im August 2022 zum Fischsterben geführt habe, wieder gegeben. Von März bis Juni 2023 sei die Algen-Konzentration stark gestiegen.
Die hohe Salzkonzentration komme überwiegend aus der Einleitung von Abwässern aus dem polnischen Bergbau, vor allem aus dem Kohle-Bergbau, betont auch Pusch. Im oberschlesischen Kohlebergbau-Gebiet werde die Kohle aus großer Tiefe heraufgeholt. Um an sie heranzukommen, müsse das Wasser dort abgepumpt werden, und dieses sogenannte Sümpfungswasser sei sehr salzhaltig und werde einfach eingeleitet.
Eine Voraussetzung für die erneute massenhafte Vermehrung der Algen sei nun, dass der Fluss eine geringe Wasserführung habe, sagte Pusch. Die Oder habe im Winter zwar eine höhere Wasserführung aufgrund der Niederschläge und einer geringeren Verdunstung gehabt, der Durchfluss gehe aber stark zurück, weil es im Mai so wenig geregnet habe. Auf der deutschen Oder-Seite sei nur ein Viertel des durchschnittlichen Niederschlags gefallen, "sodass wir mit einem stark sinkenden Wasserspiegel rechnen".
Im Frühsommer 2023 sind nach Angaben der Gebietsverwaltung der Woiwodschaft Opole in dem von der Oder abzweigenden Gleiwitzer Kanal sowie im Kedzierzyn-Kanal insgesamt 450 Kilogramm toter Fische geborgen worden. In beiden Kanälen wurde bei Wasserproben auch die giftige Goldalge nachgewiesen. Bereits im Mai und im April war die Goldalge in zwei Stauseen in der Nähe der Oder entdeckt worden.
Was unternehmen Politik und Behörden?
Der erneute Fund toter Fische hat Polen und Deutschland vor dem Hintergrund der Umweltkatastrophe im Sommer 2022 alarmiert. In Polen wurde ein Krisenstab einberufen, der bereits Vorschläge unterbreitet hat.
Unter anderem soll das Wasser mit Sauerstoff angereichert werden. Das ist allerdings nur eine Symptombehandlung, das Wachstum der Algen kann damit nicht verhindert werden.
Außerdem will der polnische Krisenstab die Fische durch Netze davon abhalten, in Altarme der Oder zu schwimmen. Denn der Algenstamm vermehre sich auch in den Altarmen mit geringem Salzgehalt, hieß es. Deutsche Forscher sehen das eher kritisch, denn die Altarme sind auch Laichgebiete der Fische - zudem boten sie den Fischen im Sommer 2022 Schutz.
Der Krisenstab hat zudem vorgeschlagen, die Einleitungen von Industrie und Haushalten systematisch in Abhängigkeit von den Wassermesswerten zu steuern. Das soll Überlastungen vermeiden. Deutsche Experten sehen darin einen sinnvollen Schritt – verweisen aber darauf, dass auch das nur eine Symptombehandlung sei. Die Salzeinleitungen seien schlicht zu hoch und müssten reduziert werden.
Auf der Oder-Konferenz im Juni 2023 machte Polen deutlich, dass Beschränkungen für die Kohle-Industrie nicht zur Debatte stünden. Ohne Beschränkungen ist nach Einschätzung des Gewässerökologen Martin Pusch aber keine ausreichende Reduktion der Belastung möglich. Es gebe auf polnischer Seite durchaus Zwischenspeicher und Absetzbecken für das salzhaltige Abwasser aus dem Bergbau, doch die reichten nicht aus, berichtet er: "Es ist auch sehr aufwendig, vor allem energieaufwendig, das Salz aus dem Abwasser zu entfernen." Eine hierfür gebaute Anlage in Polen könne nur einen Teil des Abwassers verarbeiten.
Das polnische Umweltministerium hat Ende Mai 2023 ein Algenvernichtungsmittel am Gleiwitzer Kanal eingesetzt. An zwei Schleusen wurden Chemikalien in die Oder eingeleitet. Eines der eingesetzten Mittel war Wasserstoffperoxid, das unter anderem als Desinfektionsmittel eingesetzt wird. Das Mittel ist umstritten, denn auch andere Lebewesen können davon negativ beeinflusst werden.
Was für ökologische Folgen hat der Ausbau der Oder?
Dass ungefähr die Hälfte des betroffenen Fischbestands die Katastrophe im August 2022 überlebt hat, erklärt der Gewässerökologe Martin Pusch unter anderem damit, dass sich viele Fische in Rückzugsräume zurückziehen konnten - in Nebengewässer und Altarme, "die nicht in diesem Maße von dem Gift betroffen waren".
Wenn man jetzt aber die Oder ausbaue, wie es vor allem auf polnischer Seite, teils aber auch auf deutscher Seite geschehe, führe das dazu, dass bei Niedrigwasser der Wasserspiegel noch stärker absinke. Denn das Flussbett sei dann tiefer und die Verbindung zu den Nebengewässern gehe verloren, warnt Pusch. "Das heißt, die Fische sind dann im Hauptfluss-Lauf gefangen und den eventuell neuen Vergiftungswellen schutzlos ausgesetzt."
Arndt Reuning, ahe, pto, dpa, afp