Gerade hat die Glocke zur Pause geläutet am Gymnasium der Stadt Würselen. Schüler drängen aus den Klassenzimmern und laufen plappernd über die Gänge. Frajo Ligmann hat gerade eine Stunde Mathematik unterrichtet. Jetzt sitzt er gemeinsam mit seiner Schülerin Julia im ruhigeren Lehrerzimmer vor dem aufgeklappten Laptop. Sie besprechen ein Lernvideo, dass die 16-Jährige sich anschauen sollte:
"Ich habe mir mal angeguckt, wie du das bearbeitet hast. Das war schon super. Aber mir ist aufgefallen, dass du eine Stelle fünf Mal angeguckt hast. Erinnerst du dich daran, gab es da eine Schwierigkeit?
Julia: "Die eine Stelle war unklar, ich weiß nicht ob es an der Aufgabenstellung lag oder am Rechenweg. Weil, der Rest des Videos war eigentlich relativ klar."
Methode: "Flip the classroom"
Gemeinsam schauen sich der Mathematik-Lehrer und Julia besagte Stelle noch einmal an und klären Fragen. Das Video zur linearen Funktion ist eines von vielen, das Frajo Ligmann erstellt hat. Der Informatiker arbeitet mit den Tablet-Klassen am Gymnasium nach der Methode "Flip the classroom", zu Deutsch etwa: "Umgedrehter Unterricht". Das heißt: Die Schülerinnen und Schüler schauen sich Erklärvideos zu neuem Lernstoff zu Hause an. Im Unterricht werden dann die passenden Übungen gemacht. Im Grunde wird also der klassische Lernverlauf umgedreht.
Frajo Ligmann sieht darin einen großen Vorteil. Denn nach der üblichen Erklärung im Unterricht sei ein Teil der Klasse oft genauso schlau wie vorher: "Egal, wie langsam ich es mache, wie gründlich ich es mache: Nicht alle werden mir folgen und diese Schüler haben dann Schwierigkeiten zu Hause, wenn ich die Hausaufgaben aufgebe und die haben den Stoff schon im Unterricht nicht wirklich verstanden. Und viele machen dann ihre Hausaufgaben auch nicht."
Tafel und Mathebuch bleiben gefragt
Mathelehrer Ligmann nutzt die Lernvideos als eines von vielen Medien. Auch die klassische Tafel oder das Mathebuch kommen zum Einsatz. Im Austausch mit anderen Kollegen, die diese Methode ebenfalls anwenden, stellt er immer wieder fest: Mit den Videos können die unterschiedlichen Bedürfnisse in der Klasse gezielter berücksichtigt werden.
Ab der 5. Klasse werden am Gymnasium in Würselen pro Jahrgang zwei Klassen mit Digitalgeräten unterrichtet und eine nach klassischen Methoden. Julia geht in eine Tablet-Klasse. Auch sie sieht in der neuen Art des Unterrichts viele Vorteile:
"Es ist viel angenehmer, als wenn jemand an der Tafel steht, und irgendwas erklärt und man versteht es nicht. Und wenn man es an einem Nachmittag nicht geschafft hat, dann kann man es am Abend vor dem Unterricht nochmal machen. Und muss nicht auf den nächsten Unterricht warten, um zu fragen."
Einige Lehrkräfte sind verunsichert
Diese Begeisterung für die Digitalisierung an der Schule wird längst nicht von allen geteilt. Einige Lehrkräfte seien stark verunsichert, erzählt Französisch-Lehrerin Stefanie Schäfers. Sie nutzt in ihrem Unterricht Apps zum Vokabeln-Lernen genauso wie die Video-Methode. Es ärgert sie, dass viele skeptische Kollegen vor allem Angst vor Überlastung haben.
"Dass die Idee in den Köpfen kursiert, wenn ich mich damit beschäftige, kommt das noch on top. Die Kollegen sehen oft das Ganze, und sind davon erschlagen. Anstatt zu sagen: Diese eine Anwendung, die probiere ich jetzt mal aus."
Und selbst das eigene Lernvideo zu erstellen sei einfach, erzählt Schäfers weiter. Nach kurzer Einführung ist demnach lediglich ein eigener Laptop nötig. Auch den Vorbehalt, mit den Geräten würden Schüler viel zu sehr abgelenkt, hat die Romanistin schon häufig gehört und räumt ein:
"Ja, Ablenkungspotential gibt es. Gerade am Anfang. Aber wir haben festgestellt, so nach einem halben Jahr wird es tatsächlich zum Arbeitsmittel."
"Massiver Einschnitt in das, was wir unter Bildung verstehen"
Außerdem könnten die Geräte zentral angesteuert und gesperrt werden, fügt Kollege Frajo Ligmann hinzu. Er würde gerne die gesamte Schule auf Tablets umstellen und folgt einer Mission: Überall in Deutschland vernetzt er sich mit Kollegen, um die Methode "Flip the classroom" voranzubringen. Regelmäßig rennt er dabei gegen Wände:
"Wenn man einem Kind sagt 'Informier dich!', dann wird es nicht als erstes zum Buch greifen, sondern ins Internet gehen. Das ist ein Leitmedienwechsel. Den haben wir erst drei Mal in der Menschheitsgeschichte erlebt. Und das ist so ein massiver Einschnitt in das, was wir unter Bildung verstehen. Das wird von vielen nicht Ernst genommen. Viele Schulleiter widmen sich dem nicht. Die Landesregierung versucht es, aber es ist alles so halbherzig. Also in dem Tempo wird sich da lange nichts tun."
Ligmann fordert mehr Geld für die digitale Ausstattung. Und vor allem: Mehr Zeit, damit Lehrer sich fortbilden.