Mathe-Pauken. Schon wieder. Unterrichtsalltag in der Klasse 8a der Inge-Aicher-Scholl-Realschule in Neu-Ulm. Allerdings: Neben Zirkel, Geodreieck und Heften liegen auch noch andere Utensilien auf den Schulbänken.
"Das ist mein Smartphone. Da kann man seine Lösungen überprüfen."
"Das ist ein Tablet. Darüber wir können die Lösungen zum Beispiel anschauen. Oder die Videos auf Youtube von unserem Mathelehrer. Mathe-Lernvideos."
"Hallo liebe Schülerinnen und Schüler. Heute geht's um Parallelen-Schar. Und Schar heißt einfach: Ganz viele."
Nur wenige Klicks auf dem Schüler-Tablet - und auf dem Bildschirm erscheint, unter allerlei geometrischen Formen und Formeln, der Kopf eines jungen Mannes: Sebastian Schmidt, Anfang 30, der, wenn man so will, "Erfinder" des Projektes "Flipped Mathe" in Deutschland.
"Vor ungefähr drei Jahren habe ich mir gedacht, bei meinen Unterrichtsvorbereitungen: Es gibt so viel Videos zu fast jedem Thema. Das müsste man doch irgendwie auch zur Unterrichtsvorbereitung einsetzen können. Aber als Lehrer hat man so einen Perfektionisten-Drang. Und dann habe ich keines gefunden, dass gut zu mir passt. Und dann hab' ich gesagt: Dann mach' ich halt selber eines."
Mit einem Quiz wird das Wissen abgefragt
Das war der Startschuss zu einem ungewöhnlichen Projekt: Schmidts "Flipped-Mathe"-Videos, in denen er das, was vielen abstrakt und schwierig erscheint, in einfachen, manchmal sogar launigen und aufgelockerten Sätzen erklärt. Statt Hausaufgaben gibt er seinen Schülern "Video-Gucken" auf.
"Die Schüler bekommen ein Quiz dazu, um zu überprüfen, ob sie das auch wirklich gemacht haben. Also in dem Quiz stehen so ein paar Sachen drin, die ich halt zwischen den Zeilen gesagt hab', nicht dass die Schüler nur ans Schlussbild hin klicken und das Ganze abschreiben, sondern sich das Ganze von Anfang bis Ende anschauen."
"Zunächst kriegt ihr eine neue Aufgabe. Das heißt: Wir haben hier Geraden-Gleichungen. Und die müsst Ihr jetzt farblich zuordnen..."
Klare, verständliche Sprache mit unverkennbar bayerisch-schwäbischem Akzent, dazu die Grafiken, die sich stets den Aussagen im gesprochenen Text anpassen: Das ist etwas anderes als klassisches Pauken mit angestaubten Büchern. Gerade Abstraktes wie Mathe findet so viel leichter den Weg in die Köpfe der Achtklässler. Zu ihnen gehören Martin Gerstenheimer und Morgan the Kaye:
"Die Videos sind einfach immer einfach, also so, dass man sie immer versteht. Und wenn man dann immer noch Fragen hat, kann man die in der Stunde klären. So hat man einfach ein Video. Und man kann sich das immer anschauen, wann man will und nicht so wie in der Schule, wo, wenn man nicht aufpasst, es dann auch nicht verstanden hat. Das macht das alles schon spannender. Das macht auch Spaß!"
"Man versteht's viel besser. Und wenn man eine Stelle nicht genau verstanden hat, dann kann man das dann zurückspielen und es noch mehr anschauen, bis man's drin hat."
"Ich versuche, das wirklich knackig zu machen. Weil es ist ja auch klar, dass ich mit 20 Minuten Vortrag nicht die Schüler vom Hocker reiß. Sondern es müssen kurze, kleine Erklär-Videos sein, wo ich kurz was anreiße, was wichtig ist für die Stunde. Also ich versuch mich auf drei bis fünf Minuten zu disziplinieren."
Sinnvolle Einbettung in den Unterricht
Wie ein Stehaufmännchen blendet sich Sebastian Schmidt mit seinem Kopf mal in das Video ein, mal auch wieder aus: Die Begabung fürs multimediale Gestalten schimmert ebenso durch wie das Bemühen, den Schülerinnen und Schülern, Mathe so anschaulich wie möglich beizubringen - und das mit belegbarem Erfolg, betont Schulleiter Stefan Vielweib:
"Die erste Jahrgangsstufe, die der Herr Schmidt mit diesem Konzept angeleitet hat - da hab' ich eine Parallelklasse gehabt. Und da habe ich relativ gut vergleichen können. Und zum Schluss muss ich einfach sagen, dass die Leistung, die Ergebnisse, die der Herr Schmidt erzielt hat, einfach besser waren. Die waren signifikant besser."
"Hast Du das Video angeschaut? Dann weißt Du doch, was die Steigungen miteinander zu tun haben, wenn es Parallelen sind? Die Steigungen sind immer gleich."
Wichtig bei "Flipped Mathe": Die Videos müssen sinnvoll eingebettet sein in den Unterricht, als Ergänzung zu Lehrbuch, Geodreieck und Zirkel - traditionelle Lehrmittel, die auch Sebastian Schmidt nach wie vor für unverzichtbar hält. Ohnehin herrscht außerhalb der Mathe-Stunden von Sebastian Schmidt an der Inge-Aicher-Scholl-Realschule ein generelles Handyverbot. Internet und mobile Endgeräte dürften, glaubt auch Sebastian Schmidt, nicht ständige, sondern nur punktuelle Begleiter im Unterricht sein. Ganz 'ohne' komme moderner Unterricht aber nicht mehr aus, glaubt Schulleiter Stefan Vielweib:
"Das, was die Schüler momentan haben, zuhause, was sie da machen, sollten wir auch in unserem Unterricht verwenden. Und da ist einfach Tatsache; Ich habe einen Sohn in diesem Alter, der in der sechsten Klasse ist. Für den sind Handy und Smartphone etwas ganz wichtiges. Und wenn so etwas schon da ist, sollte man den Kindern auch zeigen wie man so etwas sinnvoll verwendet."
Leihgeräte für Schüler ohne Smartphone
Und wenn kein Smartphone da ist? Und kein Tablet, nicht einmal ein PC? Beim Projekt "Flipped Mathe" bleiben die Schüler dennoch nicht ausgeschlossen; die Schule stellt Leihgeräte zur Verfügung. Derweil denkt Lehrer Sebastian Schmidt an die Zukunft: Auf Lehrerfortbildungen hat er sein Projekt bereits vorgestellt; Kollegen wollen seine Idee ebenfalls umsetzen - nicht nur im Mathe-Unterricht.
"Ich glaub', dass auch alle andere Fächer dafür prädestiniert sind. Wenn ein Lehrer etwas erklären muss, dann kann man ein Erklär-Video machen und Unterrichtssequenzen austauschen."