Flotows "Martha" war schon zu Wagners Lebzeiten ein Welterfolg, den Caruso 1906 an der New Yorker Met und auf Schellackplatte noch zwei Jahrzehnte verlängerte. Doch der gut situierte Adelige Friedrich von Flotow floh – im krassen Gegensatz zu Wagner oder Lortzing – nicht nur 1830 und 1848 vor den Revolutionen aus Paris. Er vertonte 1847 in "Martha", wie eitel gehandhabte Standes- und Besitzunterschiede zwei Liebende zunächst fast ruinös trennen, bis "Herz über Geld und Rang" siegt: Geht derartiger "Royalty-Quark" à la "Gala" oder "Goldenes Blatt" im Jahr 2016 noch als Musiktheater? Wo doch Johann Nestroy schon 1848 eine bissige Persiflage auf eine Wiener Brettlbühne brachte und seither viel Kritikerhäme folgte.
Musik: Flotow, "Martha", Quartett 2.Akt
Die von Flotows Librettist Wilhelm Friedrich aus einem Ballett gefilterte Handlung ist geschickt gebaut: Lady Harriet langweilt sich am Königshof; ihre Vertraute Nancy rät, sich zu verlieben; doch da die umgebenden adeligen Kandidaten Langweiler sind, verkleiden beide sich und bieten sich am Markt von Richmond als Mägde an; der fesche Gutsbesitzer Plumkett und sein verarmter Freund Lyonel verlieben sich auf Anhieb und engagieren die beiden falschen Dienstboten; doch der besitzlose Lyonel ist der arrivierten, spielerisch als Magd Martha verkleideten Lady nicht gut genug; dann weist der tief verletzte Lyonel als wieder eingesetzter Graf Derby die nun unter ihm stehende Lady zurück – und nur im von Martha erneut inszenierten Markt-Spiel um "Pächter und Magd" finden die beiden sich – als zwei liebende Menschen, was Plumkett und Nancy viel direkter gelungen war.
Musik adelt Handlung
All das ließe sich in herb entlarvender Sozialkritik oder freudianischer Tiefgründelei zerlegen. Doch Flotow hat alles mit einer oftmals unterhaltsam ansprechenden und mehrfach emotional anrührenden Musik geadelt – über "Martha, Martha, du entschwandest" und das Lied von der "Letzen Rose" hinaus.
Musik: Flotow, "Martha", 2.Akt Notturno Quartett
Das machte Frankfurts GMD Sebastian Weigle mit dem Museumsorchester immer wieder delikat, dann mal dramatisch auftrumpfend, mal tänzerisch leichtfüßig hörbar. Und dann Maria Bengtsson: eine "aristokratisch hochgezüchtete" Lady Harriet, eine bildhübsche Martha, der man, nein, jederman verfallen muss – und ein mädchenhaft süßer, höhensicherer Sopran mit einer Pianissimo-Kultur, dass sogar der Schmachtfetzen der "Letzten Rose" in Bann schlägt und anrührt.
Musik: Flotow, "Martha", "Letzte Rose"
Dazu vier, dem internationalen Sopranstar nicht nachstehende Ensemblemitglieder: Katharina Magiera kontrastierte mit schönen Mezzo-Tönen als reizvoll resolute Nancy; der neu engagierte US-Tenor AJ Glueckert gab überzeugend einen leicht tapsigen, emotional unsicheren, doch tenoral überzeugenden Lyonel; Björn Bürger war mit kernigem Bariton ein bodenständiger Plumkett; Barnaby Reas jugendlicher Bass passte zum snobistisch überheblichen Lord Tristan, der im Liebesspiel leer ausging. Um sie herum wirbelten Chor-Solisten als drei Mägde und zwei Pächter und der von Tilman Michael einstudierte Chor.
Szenisch-dramaturgische Intelligenz rettet das Werk
All das verschwendet an eine unrettbar vorgestrige Handlung? Mitnichten! Die inzwischen in Glyndebourne, London und quer durch Europa inszenierende Katherina Thoma kehrt nicht nur gerne an das Haus ihrer ersten Assistenzen zurück – sie bringt auch Ideen mit: Den Mägde-Markt von einst haben wir doch einfach in die Dating-Portale des Internets verlegt – wo die Lady und Nancy prompt per Tablet suchen und finden. Von Etienne Pluss hat sich Thoma einen dunkel getäfelten Saal mit vielen Schwingtüren bauen lassen. Als wäre die Bühne eine märchenhaft große Spieluhr, fahren in raffiniert gezirkelter Nutzung der Drehbühne durch diese Türen kleinere Szenenbilder herein und heraus: gestylter Salon und Ballkleid-Anprobe der Lady, Richmond-Bierkneipe mit Oktoberfest-Ambiente, Mini-Cooper und Wohnmobil auf dem Lande, abendliches Rendezvous mit Martha auf der Kinderschaukel, die von oben im Hermelin-Mantel hereinschwebende Queen als Retterin – also: konkrete Spielorte, präzise Personenregie für zutiefst menschliche Emotionen, oft amüsante, aber eben spielerisch gleichnishafte Vorführung – und somit immer wieder gebrochene Theaterillusion: all das gelang. Prompt gab es mehrfach Szenenbeifall und einhelligen Jubel für alle Beteiligten. Szenisch-dramaturgische Intelligenz rechtfertigte also den Inhalt – was Flotows lebendig pulsierende Musik nicht nötig hat.
Musik: Flotow, "Martha", Finale 4.Akt