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Flucht aus dem Schloss
Die abenteuerliche Geschichte von Colditz in Sachsen

Colditz mit gut 5000 Einwohnern liegt neben Leipzig und fällt durch sein überragendes Schloss mit den weißen Mauern auf. Berühmt ist die fast 1000jährige Anlage vor allem in Großbritannien. Denn während des Zweiten Weltkriegs inhaftierte die Wehrmacht dort alliierte Offiziere - Colditz galt als ausbruchssicher. Das war es aber nicht.

Von Susanne von Schenck |
    "Wenn Sie in London sich auf die Straße stellen und sagen, Sie kommen aus Colditz, dann weiß garantiert jeder Dritte, was Colditz ist, wo es ist und was es damit für eine Bewandtnis hat,"

    so ein Einwohner. Denn während des zweiten Weltkriegs hatte die Wehrmacht dort hochrangige alliierte Offiziere im Colditzer Schloss inhaftiert. Die über tausendjährige Anlage, die auf einem Felsen thront, galt aus ausbruchssicher.

    Aber die "bad boys" wollten natürlich in die Freiheit. Mit ihren abenteuerlichen Fluchtversuchen schrieben sie Geschichte. Und Militärgeschichte ist nun mal ein Steckenpferd vieler Engländer, gerne auch dann, wenn dabei die "Krauts", die Deutschen, schlecht wegkommen.

    "Ich bin hier in der Gegend auch aufgewachsen, hatte Schulfreunde hier und hab nie was gewusst. Für uns war Colditz das Krankenhaus, immer,"

    sagt Steffi Schubert. Denn während der DDR-Zeit wurde das Schloss als Krankenhaus genutzt.

    "Nach der Wende sind wir mit meiner Freundin nach England gefahren, haben die erste Gelegenheit genutzt, dahin zu fahren und bei Familien Privatunterkünfte gehabt. Und haben unserer Gastfamilie einen Bildband über Sachsen mitgebracht. Da war irgendwo ein kleines Foto über Colditz und sie sagten: Oh is that Colditz? Und wir haben gesagt: ja, aber wieso kennen sie unser Krankenhaus. Und das war peinlichst, also ich hätte im Erdboden versinken können. ""

    Steffi Schubert ist Schlossführerin. Und weil vor allem Besucher aus dem englischsprachigen Raum ins tiefe Sachsen reisen - zwischen 15.000 bis 20.000 sollen es jedes Jahr sein - hat sie die "extendend tour" entwickelt. Zwei bis drei Stunden dauert sie, und neben dem sehr sehenswerten Fluchtmuseum im Colditzer Schloss werden zahlreiche Originalschauplätze besichtigt.

    Um 11 Uhr morgens steht Steffi Schubert im Schlosshof. Lynn Kean und Lawrence Jones aus dem englischen Nottingham blicken sie erwartungsvoll an.

    ""Absolutly fascinating place here, yes, totally."

    Als OFLAG IV C ging das Colditzer Gefangenenlager in die Geschichte ein. Zwischen 1941 und 1945 waren rund 1500 alliierte Offiziere dort inhaftiert, darunter auch Angehörige des britischen Königshauses. Das Schloss erhielt kriegswichtige Bedeutung.
    Für die meisten der Insassen war es geradezu eine Pflicht, auszubrechen oder anderen dabei zu helfen. Über 300 Fluchtversuche sind dokumentiert, 31 glückten. Die Ausbrecher seilten sich mit zusammengeknüpften Bettlaken von den hohen Mauern ab, gruben Tunnel unter der Burg, versuchten, als Frau verkleidet zu entkommen oder zwängten sich, wie Pat Reid, durch ein schmales Kellerloch.

    Pat Reid war die zentrale Figur für all die Fluchtgeschichten, erzählt Schlossführerin Steffi Schubert, während sie die Gäste zu dem Keller führt, aus dem er entkam. In seiner Heimat setzte der Engländer eine ganze Medienindustrie in Gang, die bis heute andauert.

    "Pat Reid, der ist ja auch von hier geflohen. Er hat den Stein ins Rollen gebracht, dass Colditz so bekannt wurde. Er hat seine Abenteuer im Buch veröffentlicht. Das wurde dann verfilmt von Warner Brothers 1955, und dann sind ganz viele Bücher und Dokumentationen gefolgt. "

    Lynn Kean hat die meisten gelesen und gesehen. Sich mit dem zweiten Weltkrieg zu beschäftigen, ist das Hobby der Engländerin, seit sie sechzehn ist. Als sie nun vor der Maueröffnung steht, durch die Pat Reid sich einst gequetscht hat, kann sie es kaum fassen, dass ein Mensch dort hindurchpassen soll.

    Lynn Kean ist voller Bewunderung für den Mut, den ihre Landsleute damals hatten und sichtlich bewegt. Dabei war keines ihrer Familienmitglieder in Colditz inhaftiert. Für Steffi Schubert ist die Engländerin ein typischer Gast.

    "Für viele ist es ein Traum, der wahr wird, nachdem sie Colditz im Film gesehen haben, Bücher gelesen haben und jetzt sind sie plötzlich hier. Dann wollen sie en detail möglichst viel wissen."

    Es ist ein gigantischer Kasten und nicht gerade gemütlich. Schloss Colditz mit ehemals angeblich 740 Zimmern gruppiert sich um zwei Schlosshöfe. Nur 40 Prozent der Anlage sind zugänglich - als Jugendherberge, Landesmusikakademie, Fluchtmuseum und Verwaltung. Der Rest ist zu großen Teilen Baustelle und für Restaurator Thomas Schmidt wohl mehr als eine Lebensaufgabe.

    "Diese Anlage ist nicht zu wecken. Seit 96, was wir für Projekte und Leute hier akquiriert haben und kommt her und guckt euch das an. Stadt und Schloss schlafen weiter."

    Neben den sächsischen Highlights Pillnitz, Meißen und vor allem Dresden haben es die alten Burgen und Schlösser im Muldental schwer. Gnandstein, Rochlitz oder eben Colditz kennen wenige, noch weniger reisen dorthin. Aber die Reise lohnt sich: wer alte Burganlagen im Zustand der Sanierung erleben, schräge Geschichten hören und individuell jenseits des Massentourismus geführt werden möchte, der ist hier genau richtig.
    Allerdings: der kleine Ort an der Mulde ist auf Tourismus wenig eingerichtet. Zwar gibt es auf dem Schloss selbst die schöne Jungendherberge. Aber dort zu nächtigen ist nicht jedermanns Geschmack.

    Nicht weit vom Marktplatz hinter einem abbruchreifen Haus mit verwahrlostem Grundstück liegt die Pension "Alte Stadtmauer". Eine Holztreppe führt hinauf auf die Veranda.

    Dort sitzt Ralf Gorny und raucht genüsslich. Dann drückt er seine Zigarette im bereits vollen Aschenbecher aus und bittet in sein Büro. Auf dem Flur hat er ein Plakat mit dem Aufdruck "Colditz we need you" aufgehängt und im Frühstücksraum die Wände mit zahlreichen Porträts von Offizieren dekoriert. Der Kult um Colditz scheint nicht nur bei den Engländern seine Blüten zu treiben.

    "Ich bin 1993 nach Colditz gekommen, und ich möchte auch hierbleiben."

    Ein Engländer lockte den damals 24-Jährigen vom Niederrhein in den tiefen Osten der Nachwendejahre und begeisterte ihn für die Geschichte von Colditz Castle. Jetzt hat Ralf Gorny in seiner Pension vor allem Gäste aus Großbritannien. Die haben in der kleinen Stadt an der Mulde auch nicht viel Auswahl: Es gibt kaum Übernachtungsmöglichkeiten und wenig ansprechende Restaurants.

    "Das hängt ab von den Einzelgastronomen, und die Stadt denkt da auch noch nicht so mit. Und der Tourismus kann hier zum Haupterwerbszweig werden, wenn man ein bisschen mehr drauf eingestellt ist, und das ist hier nicht der Fall. "

    In seinem Büro steht ein buntes Sammelsurium an Literatur: neben dem Oxford Street Atlas Tipps für Partysnacks und natürlich zahlreiche Bücher über Colditz Castle. Zeigen möchte Ralf Gorny aber vor allem ein Spiel: "Escape from Colditz"

    "Wir haben hier bei dem Colditz Spiel ein großes Problem bis zu drei, vier Jahren: Wir haben oben ein Hakenkreuz dran. Und das ist ja Deutschland verboten, das ist in Britannien nicht der Fall. Das ist der Grund, weshalb es nicht hier im Zimmer liegen darf, weil deutsche Gäste sind dann doch ein bisschen geschockt, die denken, das ist ein Neonazi hier. Da muss ich aufpassen, dass ich dem aus dem Wege gehe. "

    Zurück auf dem Schloss. Steffi Schubert schließt die Tür zur Kapelle auf. Die sieht wüst aus, weil nach der Wende übereifrige Denkmalschützer sie wieder in den barocken Zustand versetzen wollten. An der Querwand sind noch Reste eines Fluchttunnels zu sehen: ein enger Gang, durch Fels und Holzbalken getrieben. Der Bau begann in der Spitze des Glockenturms, führte vertikal nach unten in den Weinkeller am Fuße des Turms und dann horizontal unter der Schloßkappelle hindurch. Unter den Fundamenten des Fürstenhauses sollte dann bis zum Park gegraben werden.

    "Wenn man hier runter schaut und sich das vorstellt, das primitive selbst gemachte Werkzeug benutzt, da müssen wirklich Bergbauingenieure dabei gewesen sein, Fachleute, die da Ganze sicher gemacht haben. Denn in den ganzen Dokumentationen und Berichten, die man so gelesen hat, steht nicht drin, dass einer verletzt wurde beim Tunnelbau. "

    Einer, der häufig im Tunnel arbeitete, war Leonce Petitcolin. In dem Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen - Flucht aus Hitlers Elitegefängnis" erinnert sich der Franzose:

    "Im Stollen darf man sich nicht fürchten. Es gab Leute, die konnten nicht in den Tunnel steigen. Mir hat das nichts ausgemacht. Manchmal war ich sechzig Meter vom Eingang entfernt. Das Gefühl der Angst kommt und du sagst dir: es ist soweit, ich bin hier lebendig begraben, ich muss hier unbedingt raus. "

    Nur noch fünf, sechs Meter trennten die Grabenden von der Freiheit. Aber dann entdeckten die Deutschen den Tunnel - der Traum war aus.

    Für Aufsehen sorgte auch die Flucht von Churchills Neffen Giles Romilly. Gut versteckt gelangte er immerhin bis zum Colditzer Bahnhof. Alfred Heinrich, seinerzeit Unteroffizier im Wachbataillon, erinnert sich daran, ebenfalls im Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen - Flucht aus Hitlers Elitegefängnis"

    "Plötzlich steht hier vor meinem Fenster Romilly, der Neffe von Churchill. Und hinter ihm taucht dann ein Wachposten mit Gewehr auf. Ich sage, was ist denn los? Sagt er, der war im Bahnhof in einer Holzkiste. Dort hat er durch Klopfgeräusche sich bemerkbar gemacht, da haben wir ihn rausgeholt. Entweder hat er zu wenig Luft bekommen oder hat er auf dem Kopf gestanden, da hat er sich bemerkbar gemacht. "

    Die Gefangenen auf Schloss Colditz wurden von ihren Heimatländern unterstützt. Zur Fluchtvorbereitung wurden falsche Ausweise, deutsches Geld oder Zugfahrpläne geschickt - alles raffiniert versteckt: Landkarten zwischen aufgetrennten Langspielplatten, kleine Kompasse in Walnussschalen - zu sehen im Fluchtmuseum auf dem Schloss. Mittels nachgemachter Schlüssel gelang es den Inhaftierten immer wieder, die Päckchen aus der Poststation an den deutschen Kontrollen vorbeizuschmuggeln.
    Bereits Anfang 1941 hatten die einzelnen Nationen in Colditz Fluchtkomitees gegründet, anfangs jedes Land für sich. Erst später legten sie die Komitees zusammen. Denn, so Steffi Schubert:

    "Einiges ging auch schief, vor allem zu Anfang. Zum Beispiel wurden Tunnel gegraben, die Engländer und die Holländer haben parallele Tunnel gegraben ohne voneinander zu wissen. Die Holländer sind dann in den englischen Tunnel abgestürzt."

    Die Strafen für Fluchtversuche waren rein disziplinarisch: ein bis vier Wochen Einzelhaft - Zeit, um über den nächsten Ausbruchsversuch nachzudenken. Die Offiziere wurden in der Regel gut behandelt, die Bestimmungen der Genfer Konvention eingehalten. Sie mussten nicht arbeiten, sondern spielten Theater, lernten Sprachen, hielten Vorträge, trieben Sport. In Colditz, meint Lawrence Jones aus Nottingham, sei die Vergangenheit zum Greifen nah.

    "Als wir gestern im Schlosshof saßen, war außer uns niemand da. Aber alles erinnerte daran, wie es wohl damals war. Es ist ein Privileg, jetzt dort zu sitzen, wo alle die lebten, die doch mit ihren Fluchtplänen so viel erreicht haben. Als ob ihr Geist, ihre Seelen hier wären, das ist ganz eigenartig."

    "Hier sind wir jetzt auf der Westterrasse, man hat einen wunderbaren Blick ins Land, man sieht den Fluss vor sich, "

    sagt Schlossführerin Steffi Schubert.

    "Dieser Fluss sollte per Segelflugzeug überquert werden. Hier oben, hinter diesem Giebel wurde das gebaut und sollte dann über den Fluss katapultiert werden und auf der Wiese da drüben landen. "

    Das wäre wohl der spektakulärste Ausbruchsversuch gewesen - mit einem Segelflieger, zusammenmontiert aus Dielenbrettern und Betttüchern. Aber so weit kam es nicht. Denn am 16. April 1945 befreiten die Amerikaner Colditz. Der bald zu Brennholz verarbeitete Flieger wurde in England später nachgebaut und steht heute im Imperial War Museum in London.
    Auch in Colditz ist jetzt ein weiteres Modell zu sehen sein. Denn im nicht weit entfernten Altenburg haben Mitglieder des Vereins "Flugwelt" seit 1 1/2 Jahren den Segelflieger nachgebaut. Andy Trabeck schmirgelt noch eben den Lack auf den Tragflächen glatt. Die sind, ganz wie seinerzeit das Original, mit blau-weiß kariertem Stoff bezogen.

    "Es ist eigentlich etwas suspekt, dass jetzt der Deutsche das Flugzeug nachbaut, aber es hat sich einfach mal so ergeben. Es ist aber schon völkerverbindend, wenn man so was macht. Der Krieg ist vorbei zum Glück und man muss nicht mehr an die alten Dinge sich zurückerinnern und irgendjemand noch haftbar für irgendwas machen. Das bringt ja nichts. "